Popbands aus Tel Aviv in Hannover

Neue Tel Aviver Welle

Eine Konzertreihe in Hannover stellt in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Ahlem junge Popbands aus Tel Aviv vor.

Künstler aus Israel haben eigentlich nur ein Ziel in Deutschland: Berlin. Aber ausgerechnet das oft als provinziell verpönte Hannover ist für israelische Popmusiker seit kurzem ebenfalls eine gute Adresse. Grund dafür ist die Konzertreihe »Musik aus Israel«, die im Februar mit einem Auftritt von Tamar Aphek begann. Seitdem treten regelmäßig Musiker aus Israel in Hannover auf, fast alle kommen aus Tel Aviv. Bislang waren das Sun Tailor, Dan Billu, Hagar Levy, Gitla und Ori. Nach einer kurzen Pause geht es nun mit der Band The Angelcy weiter. Das Besondere: Einige Künstler besuchen am Tag nach ihrem Auftritt eine Schulklasse, um ein paar Songs zu spielen und mit den Schülern zu reden.
Organisiert wird die Reihe von der Gedenkstätte Ahlem sowie dem Radiosender Leinehertz 106.5, bei dem die Musiker nach Möglichkeit zusätzlich ein Akustikkonzert geben. Beim Sender engagiert sich vor allem Jens Dreiser, Leiter der Musikredaktion. Vor einem Jahr stieß er auf eine Website, auf der Bands aus Tel Aviv vorgestellt wurden, und konnte nicht genug bekommen. »Ich habe immer mehr Künstler aus Tel Aviv entdeckt, manche davon in meinen Sendungen gespielt, die Labels und Musiker kontaktiert, mir Alben gekauft. Das hat mich alles total geflasht.« Seit Oktober stellt Dreiser in der monatlichen Sendung »Tel Over« zwei Stunden lang aktuelle Musik aus der israelischen Metropole vor. »Es ist mir wichtig, dass man die Bands nicht darauf reduziert, dass sie aus Tel Aviv kommen oder dass es sich bei den Musikern überwiegend um Juden handelt«, sagt er. »Ich stelle diese Bands nicht vor, weil sie aus Israel kommen und ich da als Deutscher irgendwie eine Verpflichtung fühle oder so etwas. Ich stelle sie vor, weil sie super sind. Alles andere wäre Quatsch.«
Während er begann, sich mit der Tel Aviver Musikszene vertraut zu machen, planten die Verantwortlichen der Gedenkstätte Ahlem gerade ihr Programm für das Jahr 2016. »Wir wollen verstärkt im kulturellen Bereich aktiv werden und haben uns schnell darauf geeinigt, dass wir einen Schwerpunkt mit Musik aus Israel setzen«, sagt die Leiterin Stefanie Burmeister. »Durch Konzerte und den Dialog mit den Musikern bekommt man einen ganz anderen Einblick in das Land, als Zeitungen und Fernsehen ihn möglich machen. Und nur über Austausch und gegenseitiges Kennenlernen können Vorurteile abgebaut werden.« Burmeister und Dreiser kamen ins Gespräch und beschlossen, die Reihe »Musik aus Israel« gemeinsam auf die Beine zu stellen.
Zunächst scheint es ungewöhnlich, dass eine Gedenkstätte Popkonzerte organisiert, aber das Konzept passt durchaus in diesen Rahmen.
Die Gedenkstätte Ahlem befindet sich am Ort der Israelitischen Gartenbauschule, in der ab 1893 jüdische Männer ausgebildet wurden. Ab 1933 half die Gartenbauschule jungen Juden bei der Auswanderung nach Palästina, einige Absolventen konnten beim Aufbau des Staates Israel wichtige Arbeiten übernehmen. Ab 1941 diente das Gelände den Nazis als Sammelstelle für Deportationen, mehr als 2 000 Juden wurden von Ahlem aus in den Tod geschickt. »Aufgrund der speziellen Geschichte Ahlems hat auch die Gedenkstätte einen besonderen Charakter«, sagt Burmeister. »Lange Zeit hat hier ein sehr buntes jüdisches Leben stattgefunden, zu dem natürlich auch die Musik und das Feiern gehörten. Es kamen immer wieder Überlebende nach Ahlem. Viele von ihnen betonten, wie sehr es sie freuen würde, wenn hier wieder ein vielfältiges kulturelles Leben entstehen würde. Das sehen wir als Verpflichtung, und in diesem Zusammenhang ist auch die Reihe Musik aus Israel als ein Baustein von vielen zu verstehen.«
Der erste Musiker, der nach seinem Gig eine Schulklasse besuchte, war Arnon Naor, der unter dem Namen Sun Tailor experimentellen Indie-Folk spielt. »Es war eine wunderbare Erfahrung, mit den Kids zu sprechen«, sagt er über das Treffen mit Oberstufenschülern der Sophienschule. »Sie haben mir natürlich Fragen über den Alltag in Israel gestellt, aber sie wollten auch genau wissen, wie es ist, als Musiker zu arbeiten. Im Gegenzug haben sie mir ein paar Dinge über das Leben von Teenagern in Deutschland erzählt. Die Atmosphäre war offen und freundschaftlich.«
Dass Tel Aviv seit einigen Jahren so viele großartige Popbands unterschiedlicher Genres hervorbringt, ist ein interessantes Phänomen. »Die Stadt ist das kreative Zentrum des Landes, Künstler aus allen Bereichen ziehen dorthin«, sagt Arnon Naor über diese Entwicklung. »Man inspiriert sich gegenseitig, und es gibt eine positive Art von Konkurrenz.« Zur Tel Aviver Szene gehört auch Hagar Levy, die ihren energetischen R’n’B-inspirierten Pop in diesem Jahr ebenfalls schon in Hannover auf die Bühne brachte. »In Tel Aviv lebt ein angenehm wilder Mix von Menschen«, sagt sie. »Diese kulturelle Vielfalt bringt die Stadt zum Brodeln und ist eine perfekte Basis für Kreativität. Viele israelische Musiker sind gut darin, Styles zu kombinieren, neue Sounds und Technologien auszuprobieren, immer wieder Grenzen zu überschreiten. Zu den Einflüssen durch die Globalisierung und des bei uns enorm wichtigen Internets kommt der permanente Zustand der Instabilität, Unsicherheit und Dringlichkeit, der hier durch die besondere Situation des Landes herrscht. Er treibt die Musiker an und hat Einfluss auf die Musik.«
Einfach sei es nicht, als Musiker in Tel Aviv zu bestehen, sagt Levy. »Das größte Problem ist, dass es für Musik abseits des Mainstreams nur ein kleines Publikum, wenige Auftrittsmöglichkeiten und kaum Interesse seitens der Medien gibt. Unangenehm ist das klaustrophobische Gefühl, in der Region eingeschlossen zu sein. Es ist nicht möglich, schnell mal in einem anderen Land aufzutreten. Ich kann nicht einfach einen Zug nach Beirut oder Bagdad nehmen. Wir dürfen in die Türkei, nach Jordanien und Marokko, aber immer unter Auflagen. Lustigerweise haben mein Konzert in Hannover auch einige Musiker aus dem Iran, Ägypten und Tunesien besucht. So hatten wir in Deutschland den künstlerischen Austausch, der uns zu Hause verwehrt bleibt. Ich ziehe wohl bald für ein Jahr nach Europa, um mich mal wieder frei bewegen zu können.« Auftritte in Deutschland betrachtet sie als etwas Besonderes: »Es ist schon merkwürdig, wenn man nur ein paar Generationen zurückdenkt, an die schrecklichen Ereignisse, von denen auch meine Familie betroffen war, und dann steht man in Deutschland auf einer Bühne und singt Popsongs. Für mich haben diese Konzerte immer eine besondere emotionale Tiefe.«
Die nächste Tel Aviver Band, die in Hannover auftritt, ist The Angelcy, die auf mitreißende Weise gleichzeitig orientalisch, westlich und osteuropäisch-jüdisch klingt. Kontrabass, Klarinette, Flöte, Melodica, Bratsche und Gitarre gehören zu ihrer Grundausstattung. »Deutsche sind immer sehr neugierig auf Israelis und uns gegenüber auffällig positiv voreingenommen«, sagt Rotem Bar Or, Sänger und Kopf der Band. »Dadurch haben wir hier bessere Startbedingungen als anderswo. Die Geschichte ist immer präsent. Es ist wichtig, das anzuerkennen, aber wir sollten nicht an diesem Punkt stehenbleiben. Es wird wohl nie so etwas wie Normalität zwischen uns geben, aber wir sollten diese einzigartig schlimmen Umstände annehmen und auf ihnen etwas einzigartig Positives aufbauen.«
Die Band gilt vielen Kritikern als Repräsentant des unzufriedenen und desillusionierten Teils der säkularen, liberalen israelischen Gesellschaft. Grund dafür ist vor allem ihr Stück »My Baby Boy«, das mit dem Refrain »We are a natural disaster/lost all hope to ever understand the powers in command here« eine Projektionsfläche für Unzufriedenheit bietet. In ihrem Song »Freedom Fighters« wird der dauerhafte Kriegszustand angeklagt. »Es ist auffällig, dass die Deutschen gerade unsere Antikriegssongs lieben«, sagt Rotem Bar Or. »Sie würden deren Geist in Israel gern weiter verbreitet sehen, soviel ist klar.« Die guten Deutschen, sie können halt nicht anders. Die Band hat wunderbar poetische Songs über Liebe, Träume, Sehnsucht und vieles mehr im Repertoire, aber hierzulande suchen sich manche gezielt die beiden Songs aus, die antiisraelisch verwertbar sind. Es wäre schade, wenn diese komplexe Band vor allem als Kronzeuge gegen das vermeintlich böse Israel herhalten müsste.