Die Noise-Rock-Band Lightning Bolt hat im Berghain gespielt

In Wiesbaden wäre es bestimmt witzig gewesen

Die einst gefeierte Noise-Rock-Band Lightning Bolt ist unter einer Woge der Amtlichkeit verschütt gegangen.

Und plötzlich knallte es in der Ecke los. Überfallartig, mit Wucht, Geschwindigkeit und einer Frechheit, die den Mitgliedern der Vorband augenblicklich die schiere Entgeisterung in ihre Milchgesichter schrieb. Wenigstens ein paar Sekunden des schlappen Achtungsapplauses der gut 80 Gäste hätte man ihnen doch gönnen können. Stattdessen polterten diese beiden Typen, die praktisch unbemerkt ein Schlagzeug und einige Verstärker im hinteren Abschnitt des Raumes aufgebaut hatten, einfach drauflos. Noch ehe der Schlussakkord der Vorband verklungen war.
Und wenn man ehrlich war: Lightning Bolt waren an diesem Nachmittag, irgendwann im Sommer 2000, nicht nur respektlos, sondern auch virtuoser, eigenständiger und in ihrer Wildheit spektakulärer als der mittelmäßige Kram, den man auf Hardcore-Punk-Konzerten für gewöhnlich zu sehen bekam. Das lag vor allem am Schlagzeuger der Band, ein drahtiger Haken, der nicht nur äußerst verschwenderisch mit seiner Kraft umging und sein Instrument auf eine Weise traktierte, die ihm sicherlich kein Musiklehrer beigebracht hatte. Dieser Typ war zugleich der Sänger – das Mikrophon, aus ­einem Telefonhörer ausgebaut, hatte er sich mittels einer Maske vor den Mund geschnallt und jagte seine Stimme durch Effektketten, damit am Ende nur ein verhalltes Fauchen übrigblieb. Der Bassist neben ihm? ­Irgendwie ein easy Typ, der seine Arbeit beherrscht verrichtete. Dass sein Instrument eigenartig gestimmt war und sich darauf eine Banjo-Saite befand, das erfuhr man erst später. Trotz der Härte der Musik war das Publikum in Partystimmung. Wer nicht lachte, rastete aus.
»Noisy, muddy waves – just loud as shit«, so beschrieben Brian Chippendale und Brian Gibson ihre Musik einmal. Gegründet hatten sie Lightning Bolt 1994, etwa fünf Jahre und etliche mehr oder weniger improvisierte Konzerte waren danach nötig, bis das Debütalbum auf Load Records erschien, dem damals wahrscheinlich wichtigsten Label für Noise und Artverwandtes. Proben fanden im Fort Thunder in Providence, Rhode Island, statt, einem ehemaligen Fabrikgebäude, das Chippendale und einige andere Kunststudenten der Rhode Island School of Design 1995 bezogen. Bis es dem Bürodiscounter Staples Anfang des Jahrtausends weichen musste, gab es hier jede Menge Platz, um künstlerisch zu arbeiten. Man konnte so laut sein, wie man wollte. Konzerte wie das eingangs erwähnte fanden hier statt – in einigermaßen bizarr und kunterbunt ausgestalteten Räumlichkeiten.
Lightning Bolt spielten für gewöhnlich ebenerdig, inmitten des Publikums, wahlweise in Clubs, oder wo gerade Platz war. Auf Bürgersteigen beispielsweise. Das passte zum egalitären DIY-Gestus einer Szene, der auch Bands wie Arab on Radar oder The Locust aus San Diego angehörten, die ebenfalls mit selbstgebastelten Masken vor Publikum spielten. Ihr Sound, dieser übergeschnappte Noise-Rock, hatte etwas zu tun mit dem Krach, der in den achtziger und neunziger Jahren in Japan fabriziert wurde. Mit Boredoms, Melt Banana, vielleicht auch mit Hijokaidan und anderen, die heute nur noch Nerds bekannt sind. Es ging um Lautstärke, Überforderung, Feedbacks – eine Brutalität, die sich gegen den Personenkult, die hohlen Gesten des Rock richtete und in avantgardistischer Tradition an der Auflösung der Form arbeitete. Sieben Alben haben Lightning Bolt veröffentlicht. Die meisten klingen so, als hätte jemand in ihrem Proberaum ein Mikrophon in der Ecke liegenlassen und versehentlich den Aufnahmeknopf gedrückt.
Nicht ihre Krassheit hat Lightning Bolt zur Ausnahmeerscheinung gemacht, andere waren weiter gegangen. Ihre Fähigkeit, die Härte mit zugegebenermaßen manchmal etwas verstecktem Pop-Appeal und Partykompatibilität zu verbinden, hat die Band über die Jahre von einem Geheimtipp zum weit über Szenegrenzen hinweg anerkannten Act werden lassen. Für Subversionstheorien tauge die Band nichts mehr, schrieb Martin Büsser vor Jahren (Jungle World 51/2009). Was solle von Lightning Bolt unterwandert werden, fragte er, »wenn sich auf ihren Konzerten Graphikdesigner, Kunststudenten und die Großstadt-Boheme ihrer eigenen Nonkonformität vergewissern?« Ein bekanntes Dilemma, dem kaum zu entkommen ist, denkt man und fasst sich an die eigene Brille. Erst recht nicht in dieser langen Schlange vor dem Berghain am Freitagabend voriger Woche. 45 Minuten anstehen für ein Konzert von Lightning Bolt – wer hätte das jemals für möglich gehalten? Vielleicht diejenigen, die im vergangenen Jahr dabei gewesen sind, als die Band hier ein ausverkauftes Konzert gespielt hat.
Selbstverständlich wird nicht mehr im Publikumsbereich aufgebaut, das wäre den 700 bis 800 Gästen gegenüber unfair. Stattdessen gehen Chippendale und Gibson auf die Bühne und spielen eine Rockshow. Mit ­allem, was man daran übel finden kann. Inklusive Pogo, Stage­diving und, aller Wildheit zum Trotz, einer unangenehm an Herrenrock erinnernden Amtlichkeit. In einem kleinen Schuppen hätte man sich über Gibsons Bass-Soli vor Lachen gebogen. Angesichts der großen Bühne dieses Abends aber taucht Steve Vai vor dem inneren Auge auf. Was noch schlimmer ist: Chippendales Schlagzeugspiel klingt plötzlich nach Breakbeats, die in Verbindung mit der verzerrten Stimme an, ja, man glaubt es kaum, die Elektrorocker von Prodigy denken lassen.
Schuld an all dem ist selbstverständlich der Spielort, darüber ist man sich in den hinteren Reihen der angejahrten Szenegänger einig. Die Band gehöre weiterhin zur guten Seite. Und wäre das hier nicht Berlin, sondern Wiesbaden, wären sicherlich nicht mehr als 30 Leute gekommen. Was auch immer das für ein Argument sein mag.