Boliviens Künstler entdecken den Muralismo neu

Erzählende Wände

Wandmalerei hat in Bolivien wie in anderen lateinamerikanischen Ländern eine revolutionäre Tradition. Derzeit erobern neue Künstlerinnen und Künstler die Wände der Städte und erweitern das thematische Repertoire. Dabei bewegen sie sich zwischen Protest, Kommerz und staatlicher Propaganda. Ein Rundgang in La Paz.

Geht man durch die Straßen von La Paz, fallen einem auf den ersten Blick viele Formen von arte urbano, Straßenkunst, auf, die subjektive Ausdrucksform, sozialkritischen Protest, politische Propaganda und Medium des normalen Geldverdienens zugleich darstellen. Als arte urbano werden verschiedene, normalerweise unkommerzielle Kunstformen im öffentlichen Raum bezeichnet, beispielsweise Wand- und Bodenmalerei, Formen des Straßentheaters sowie Projektionen und Installationen. Auch Straßenmusik gilt als arte urbano. Insbesondere Muralismo (Wandmalerei) erlebt derzeit eine Blüte, denn eine jüngere Generation bolivianischer Muralistas erobert die Straßen. Dabei rücken als Themen immer mehr Umweltkonflikte in den Vordergrund, die über den nationalen Rahmen der älteren Generation hinausgehen. Aber auch alteingesessene Künstler wie Mamani Mamani, der zur indigenen Gruppe der Aymara gehört, widmen sich neuerdings auf vielfältige Weise dem Muralismo, der somit auch schrittweise kommerzialisiert wird.
Der Begriff Muralismo für Wandmalerei im öffentlichen Raum hat seinen Ursprung in der mexikanischen Revolution in den zwanziger Jahren. Damals war der Muralismo mit einer spezifischen Bildungsfunktion verbunden. Die grundlegende Idee der mexikanischen Regierung unter Federführung des damaligen Bildungsminister José Vasconcelos war, die Geschichte Mexikos durch große Wandmalereien auch analphabetischen Bevölkerungsgruppen näherzubringen. Von Mexiko aus verbreitete sich der Muralismo als eigenständige und sozialkritische Kunstbewegung und erreichte andere lateinamerikanische Länder, später die ganze Welt.
Umkämpfte Geschichte
Insbesondere zwei Künstler werden mit dem bolivianischen Muralismo in Verbindung gebracht, der dem Direktor des Nationalen Kunstmuseums, José Bedoya, zufolge eine der einflussreichsten Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts darstellt: Zum einen ist das Miguel Alandia Pantoja, der im Mai 1914 in der Minenstadt Potosí geboren wurde und vor allem seit den vierziger Jahren in La Paz arbeitete; zum anderen Walter Solón Romero, der mit der Gruppe Anteo vor allem seit den fünfziger Jahren in der bolivianischen Hauptstadt Sucre arbeitete.
Insgesamt entstanden in der Zeit der »Revolution von 1952« in Bolivien mehr als 50 Wandmalereien, viele davon sind bereits wieder zerstört. Carlos Cordero, Politikwissenschaftler an der Universität UMSA in La Paz und Spezialist für Wandmalereien von Miguel Alandia, erzählt, dass der Künstler 1952 vom damaligen bolivianischen Präsidenten Víctor Paz Estenssoro in den Regierungspalast eingeladen wurde, um ein Wandgemälde zur Geschichte der Minenarbeit zu erstellen. 1965 wurde es unter der Regierung von René Barrientos Ortuño jedoch zerstört. In Sucre bildeten sich in den vergangenen Jahren Initiativen, um die teilweise rebellischen Wandmalereien Solóns, die sich sowohl in öffentlichen Institutionen als auch in Privathäusern befinden, in nationales Kulturerbe zu verwandeln.
José Bedoya meint, in Anlehnung an den mexikanischen Muralismo gebe es auch in Bolivien eine soziale Komponente, die innerhalb der Bewegung stets den revolutionären Prozess mitkonstruiere und vor allem dokumentiere. Viele Bolivianer würden den historischen Charakter und die Besonderheit dieser Wandmalereien als historisches Archiv verkennen, die in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs entstanden seien, sagt Cordero. »Allgemein befassen sich die beiden Künstler Solón und Alandia mit der Geschichte Boliviens, mit Menschen- und Arbeiterrechten, stetiger Industrialisierung, Minenarbeit und der Revolution von 1952«, so der Politikwissenschaftler.
Viele Wandmalereien von Solón zeigen luchas populares (soziale Kämpfe) und rückten marginalisierte Bevölkerungsgruppen in den Blick, beispielsweise ausgebeutete Arbeiter und Indigene, die mit der Revolution von 1952 und der folgenden Agrarreform erstmals politisches Gewicht erhielten. Aufgrund dieser speziellen Thematik findet man heute einige Wandmalereien von Alandia und Solón im Hauptgebäude des Erdöl- und Erdgasunternehmens YPFB, das im Mai 2006 von Präsident Evo Morales verstaatlicht wurde.
Cordero misst der heutigen Generation von Muralistas einen eher geringen Stellenwert zu, was vor allem an der »fehlenden Transzendenz« der Malereien und ihrer Kurzlebigkeit liege. Viele Wandmalereien ließen auch ideologische und sozialkritische Themen vermissen, so Cordero. Dabei übersieht er vielleicht, dass die neue Generation von bolivianischen Muralistas anderen Zeit- und Lebensstrukturen unterworfen ist und ihre Themen durch globalisiertes Reisen über das Nationale hinausgehen.
Neue Künstler, neue Themen
Eine dieser neuen Muralistas ist die junge Künstlerin Norka alias Knorke Leaf. Läuft man mit Norka durch die Zentren des Muralismo in La Paz, vor allem im alternativen Bohèmeviertel Sopocachi am Westhang, erhält man eine neue Sichtweise auf die Stadt. Norka studierte an der staatlichen Universität UMSA Kunst und hat sich seit ihrem Studienabschluss dem Muralismo verschrieben. Dabei müsse sie vor allem gegen machistische Vorurteile kämpfen in einem künstlerischen Bereich, der »wie Fußball noch von Männern dominiert wird«, so Norka.
Eines ihrer Gemälde befindet sich in der Calle Quito, Ecke Ecuador. »Das Gemälde handelt von menschlichen und natürlichen Ressourcen sowie von Umweltschutz«, sagt Norka. Es sei für die Nacht der Museen 2012 entstanden. Zu sehen ist ein riesiges Quirquincho, ein vom Aussterben bedrohtes andines Gürteltier. Gejagt wird es vor allem, um aus dem Panzer Charangos zu bauen, kleine Saiteninstrumente, die ebenfalls auf dem Gemälde zu sehen sind, das den Namen »Resistencia« (Widerstand) trägt. »Für mich ist das Quirquincho Sinnbild für den Widerstand der bolivianischen Fauna, aber den Titel muss man auch in Verbindung mit dem Marsch für den Nationalpark Tipnis sehen, der 2012 in La Paz ankam und für die Rechte der Natur und der indigenen Bevölkerung kämpfte«, erklärt Norka.
Sowohl Alandia wegen seiner »Sichtbarmachung marginalisierter Bevölkerungsgruppen« als auch Solón wegen seines »ideologischen Kampfes auf Seiten der neuen Linken« hätten Norka in ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit stark beeinflusst. Das Thema Umwelt sei eines ihrer zentralen Anliegen. Damit geht Norka über die traditionellen Themen Indigenität, Mestizentum und Kolonialisierung hinaus. Sie spricht aber von einer »Kolonialisierung der Natur« und widmet sich dem »Kampf gegen Anthropozentrismus«, weswegen viele ihrer Gemälde Tiere und zoomorphe Gestalten enthalten. Ein anderes Gemälde von ihr zeigt einen Fuchs und dem plakativen kleinen Schriftzug »Stoppt den Ökozid«. Für die französische Kulturorganisation Alliance Française hat sie in La Paz ein Gemälde zum Thema Klimawandel angefertigt.
»Das Gute am Muralismo ist der Kontakt mit den Menschen und der Straße«, erzählt Norka. Für sie ist der Muralismo Kommunikation mit der Welt, etwas, das viele akademische Künstlerinnen und Künstler in ihren Ateliers nicht hätten. Ihre Gemälde, die sie gemeinschaftlich in Szene setzt, entstehen meist durch Arbeit vieler Hände. Dennoch bleibe ein gewisser Statusunterschied, denn die akademischen Künste hätten immer noch ein höheres Prestige als die Straßenkunst, so Norka. Doch sie hofft auf mehr Unterstützung vom Bürgermeister, im September organisiert die Stadt etwa ein großes »Festival der Straßenkunst«.
Auch Graffiti sind aus der künstlerischen Straßenlandschaft von La Paz kaum wegzudenken. Wichtig in diesem Bereich ist in erster Linie das anarchofeministische Kollektiv Mujeres Creando, dessen Mitglieder vor allem mit Stencil- beziehungsweise Schablonentechnik arbeiten. Kürzlich entstanden ein Buch und eine Kollektion aus über 25 Jahren politischer Graffiti und Protesten, die einige der wichtigsten Graffiti der Mujeres Creando zusammenfasst. Darüber hinaus protestiert das Kollektiv mit direkten Aktionen. Das sei kein Straßentheater, sondern »kreative und symbolische Kommunikation, eine neue Form politischer Sprache, die wir in den vergangenen Jahren perfektioniert haben«, erzählt Julieta Ojeda von den Mujeres Creando.
Protest oder Propaganda?
Dass der bolivianische Muralismo eine neue Blüte erlebt, wenngleich in anderer Manier als bei Alandia und Solón, erkennt man auch daran, dass einer der derzeit bekanntesten bolivianischen Künstler, der 1962 in Cochabamba geborene Mamani Mamani, sich immer mehr dem Muralismo öffnet. Mamani Mamani, der bereits 2012 die Südwand des bekannten Markts Mercado Lanza in La Paz bemalte, hat im Oktober 2015 begonnen, 14 riesige zwölfstöckige Wandmalereien an Gebäuden des sozialen Wohnungsbauprogramms der Regierung anzufertigen. Mittlerweile sind sie zu einer Toristenattraktion El Altos geworden. Wie Künstler in Mexiko während der Revolution arbeitet auch Mamani Mamani, der verschiedene Symbole der Andenkultur nutzt, vor allem die der Aymara, Hand in Hand mit der Regierung. Das Projekt mit dem Namen »Wiphala«, also der indigenen Flagge und dem Symbol für Diversität, hat als Thema »Gemeinschaft«. »In der Gemeinschaft sind alle vereint«, so Mamani Mamani. Kritiker der Regierung werfen ihm jedoch vor, die Aymara-Kultur sei lediglich eine der 36 ethnischen Gruppen des »Plurinationalen Staats Bolivien«, das Megaprojekt folge daher der Ideologie eines nationalen Projekts der Indigenität, das in erster Linie auf Aymara-Symbole rekurriert.
Wie politische Parteien Wandmalereien oder Graffiti als politische Propaganda nutzen, wird vor jeder Wahl deutlich. Dann verwandeln sich Hauswände und Straßenmauern in riesige Wahlplakate, die täglich von verschiedenen Parteien mit ihren eigenen Schriftzügen übermalt werden. Norka findet diese Art von Wahlkampf beschämend. »Einerseits machen die Parteien, was sie wollen, und müssen noch nicht einmal strafrechtliche Verfolgung befürchten, andere ehrliche Künstlerinnen und Künstler hingegen schon. Andererseits ist das Manipulation der Bevölkerung, die sehr anfällig für alle Art von politischer Propaganda ist, vor allem durch den propagandistischen Kampf um die Vorherrschaft an der Hauswand«, kritisiert Norka.
Der Muralismo hat in Bolivien immer noch Bestand, wenn auch mit größerer thematischer Vielfalt und unter anderen Vorzeichen. Heutzutage kämpfen die Muralistas um jeden Winkel der Stadt, um neue legale Flächen, auf denen Wandmalereien etwas länger als einige Monate Bestand haben. »Aber das ist das Gesetz des concrete jungle«, sagt Norka, »du malst und übermalst und wirst übermalt!«