Auf dem Filmfest in Sarajevo steht Mexiko im Mittelpunkt

Wenn die Gewalt die Couch erreicht

Gelacht wurde viel auf dem Sarajevo-Filmfestival. Zumindest auf der Leinwand im Rahmen des Mexiko-Schwerpunkts.

Der Junge blickt verzweifelt, in seinen Händen hält er eine Flinte. Plötzlich löst sich ein Schuss, der den Kopf einer blonden Frau trifft, die im Bademantel auf einer Couch sitzt. Blut und Gehirnmasse spritzen auf die Wand. Im Saal des Festivalkinos in Sarajevo hört man schockiertes Aufstöhnen, aber auch ein paar Lacher.
Im Publikumsgespräch nach dem Film zeigt sich der Regisseur Amat Escalante überrascht. »Es ist eine neue Erfahrung für mich, dass dieser Film auch als Komödie aufgenommen wird.« »Los Bastardos« ist Escalantes zweiter Langfilm und zeigt das Leben mexikanischer Einwanderer im Süden der USA. In ihrer Kaltblütigkeit erinnert die Erzählweise des Films an Quentin Tarantino. Und wer sich schon einmal über die Splatter-Fraktion im Publikum bei einer Vorführung von Pier Paolo Pasolinis »Die 120 Tage von Sodom« gewundert hat, für den sind die Lacher bei »Los Bastardos« nichts Neues. Ebenso wenig der Vergleich eines Cineasten bei der Zigarette nach dem Film in Sarajevo: »Das Kopfwegschießen sah bei Nicolas Winding Refns ›Drive‹ aber besser aus.«
Doch die Diskussionen nach der Vorführung drehen sich nicht allein um die Ästhetik von Kopfschüssen. Eine Zuschauerin wirft Escalante Sexismus vor, da er die weibliche Hauptfigur des Films als völlig gescheitertes und wehrloses Opfer ­darstelle. »Was sagen Sie all den Frauen mit diesem Film?!« Der Regisseur sieht sich falsch verstanden und verweist auf seinen dritten und bisher letzten Film »Heli«: »Darin brennt ein Penis.«
Diese drastischen Darstellungen schmälern jedoch keineswegs den Eindruck, dass man es bei Escalantes Filmen mit dokumentierter Realität zu tun hat. In Mexiko, wo die meisten Menschen von Hollywood-Produktionen, die das Land überschwemmen, geprägt sind, denken viele zuerst, Escalantes Filme seien tatsächlich Dokumentarfilme. In der Tat findet seine Kamera die Wirklichkeit, wenn beispielsweise in seinem ersten Spielfilm »Sangre« der Zuschauer den Protagonisten auf die riesige Müllkippe vor der Stadt begleitet, wo der versucht, die Leiche seiner Tochter zu finden, die er zuvor selbst in Plastik gepackt und weggeworfen hat.
Oft wandeln die Figuren wie Zombies durch Escalantes Filme. Sie sprechen kaum und essen und trinken resigniert nur das Nötigste. Nachdem sie von ihren frustrierenden Jobs in ihr karges Zuhause zurückgekehrt sind, sitzen sie auf der Couch und starren auf den Fernseher. Bis es an der Tür hämmert oder jemand durchs Fenster steigt und die Gewehre durchgeladen werden. Es ist ein traumatisierte Gesellschaft, von der Escalante erzählt.
Seine resignierten Figuren ähneln denen der anderen Filme, die auf dem Festival in Sarajevo laufen. Das gemeinsame Motiv: Das hilflose Schweigen, wenn die Protagonisten fernab der abgeschotteten Wohnkomplexe der Reichen in ihren Neubauwohnungen sitzen – ob in Ser­bien oder Anatolien. In die abgeschirmten »Gated Communities« dürfen sie, wenn überhaupt, nur als Putzfrauen, wie im Wettbewerbsbeitrag aus Argentinien.
Es handelt sich um realistisches Kino, in dem die Darsteller wie paralysiert agieren, als seien sie erstickt von den jeweiligen gesellschaftlichen Konventionen, die kaum zu durchbrechen sind. Von diesem Grauen zu erzählen, erfordert großes Talent. Escalante gelingt das im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen in Sarajevo. Bei ihm bleibt die Langeweile spannend, vielleicht auch, weil seine Darsteller keine Profis und deshalb umso authentischer sind. Es gibt kein Make-up in seinen Filmen und er arbeitet meist mit natürlichem Licht, das er wunderbar einfängt.
Die Sonne erinnert an Sergej Eisensteins Fragment »Que viva México!«, das dieser Anfang der dreißiger Jahre dort drehte. Die Aufführung dieses Stummfilmmaterials mit Livemusik-Begleitung bildete den Abschluss des Mexiko-Schwerpunkts beim diesjährigen Sarajevo-Film­festival. Eisenstein setzte die Klassenunterschiede der mexikanischen Gesellschaft anders als Escalante noch als Kampf in Szene. Und es wurde viel gelacht – dieses Mal vor allem auf der Leinwand, während das Publikum im Nationaltheater von Sarajevo große Augen machte.