Vetternwirtschaft im mexikanischen Sportverband

Gold für Inkompetenz

Nicht erst seit dem schlechten Abschneiden Mexikos bei den Olympischen Spielen steht der oberste Sportfunktionär des Landes in der Kritik. Seine Hauptqualifikation: Er ist mit Präsident Nieto befreundet.

Kaum hatte der mexikanische Mittelgewichtsboxer Misael Rodríguez Anfang vergangener Woche mit seinem Sieg im olympischen Viertelfinale gegen den Ägypter Hosan Hussein Abdin das Halbfinale erreicht und Mexiko die langersehnte erste Medaille bei den Spielen in Rio de Janeiro erkämpft, da tauchten in den sozialen Netzwerken auch schon Fotos auf. Sie zeigen Rodríguez und einige seiner Mannschaftskollegen, wie sie im vergangenen Jahr in öffentlichen Bussen in Mexiko-Stadt die Fahrgäste um Geld bitten.
Initiiert hatte die Aktion der mexikanische Boxverband Femexbox, um auf diese Weise Mittel für die Teilnahme der Faustkämpfer an den Welttitelkämpfen in Katar im Oktober 2015 zu sammeln, die gleichzeitig Qualifikationsturnier für Olympia waren. Es kamen gerade einmal 250 Pesos, weniger als 15 Euro, zusammen.
Vor allem aber war es ein Protest gegen die Nationale Sportbehörde Conade (Comisión Nacional de Cultura Física y Deporte), die mit dem DSB, dem Deutschen Sportbund, vergleichbar ist. Deren damals gerade erst ins Amt gekommene, Chef, Alfredo Castillo, warf Femexbox fehlende Transparenz bei den Ausgaben vor und fror die Geldmittel ein. Darüber hinaus betrieb er die Ablösung von Boxverbandschef Ricardo Contreras und drohte mit der Auflösung und Neugründung des Boxverbandes.
Rodríguez gelang in Katar zwar die Olympiaqualifikation, antreten aber musste er in »geliehener«, das heißt noch nicht bezahlter Kampfkleidung. In Rio unterlag Rodríguez im Halbfinale dem Usbeken Bektemir Melikuziev. Doch diese Niederlage war zugleich der größte Erfolg in der Karriere des 22jährigen, bedeutete sie doch Bronze. Die Medaille »sollte den Funktionären die Augen öffen, dass es in Mexiko Talente gibt, vor allem im Boxen. Sie meinen, es ist ein Sport der Armen; ich würde sagen, es ist der Sport derjenigen, die herausragen wollen«, so Rodríguez in Richtung Conade. Castillo gratulierte dem Athleten trotzdem überschwänglich per Twitter, worauhin Boxchef Contreras im Gespräch mit dem Sportsender ESPN polterte: »Ich hoffe, dass Conade sich nicht die Medaille dieses Jungen umhängt, denn sie ist nur seiner ganz persönlichen Anstrengung zu verdanken.«
Zwar kamen in den letzten Tagen der Spiele noch vier weitere Medaillen hinzu – drei silberne und eine bronzene –, aber dann wurde bemängelt, dass ein Land mit 120 Millionen Einwohnern keinen einzigen Olympiasieger produzierte. Und dass der US-Schwimmer Michael Phelps mehr olympische Goldmedaillen gewonnen hat als Mexiko in seiner gesamten Geschichte. »Mexico’s miserable Olympics« titelte die Washington Post angesichts der mageren Medaillenausbeute (in London hatte es 2012 sieben Medaillen gegeben, darunter eine goldene) und wegen des öffentlich ausgetragenen Zoffs zwischen Mexikos Sportfunktionären.
Im Mittelpunkt des Unmuts: Alfredo Castillo, Mexikos oberster Sportfunktionär und Freund des immer unbeliebter werdenden Präsidenten Enrique Peña Nieto. So schossen sich Sportler, Politiker und Presse in den Folgetagen unisono auf Castillo ein. Kritik entzündete sich unter anderem daran, dass Castillos Freundin, Jaqueline Tostado, mit offizieller Team-Akkreditierung in Rio unterwegs war. »Es hätte (statt Castillos Freundin) leicht ein Trainer oder Physiotherapeut mitkommen können, der wirklich eine Akkreditierung braucht«, beschwerte sich die Bogenschützin Aída Román, Medaillen­gewinnerin in London 2012, gegenüber mexikanischen Medien. »Aber es gibt leider jemand Geliebteren hier.« Danach tauchten fast täglich Fotos auf, die Castillo und seine Freundin zeigten, mal miteinander flirtend bei offiziellen Auftritten, mal im öffentlichen Mannschafts­outfit.
Kritisiert wurde auch, dass Mittel für die Athleten fehlen. Mexikos Gewichtheber Bredni Roque, der als Viertplatzierter in seiner Gewichtsklasse knapp an einer Medaille vorbeischrammte, musste seinen Wettkampf mit überklebten Sponsoren­logos auf dem Trikot bestreiten, da er weder vom Verband noch vom NOK adäquate Ausrüstung zur Verfügung gestellt bekam, wie er danach auf Facebook schrieb. Erinnerungen an Mexikos Bogenschützen wurden wach, die im vergangenen Jahr zum Weltcup mit handgeschriebenen Rückennummern angetreten waren. Die Ausrüstung sei Sache der Verbände, verteidigte sich Castillo.
Seit April 2015 steht Alfredo Castillo an der Spitze der nationalen Sportkommission. Bevor er von Präsident Nieto auf den Posten gehoben wurde, war er Sonderbeauftragter der Regierung in Michoacán. In dem zentralmexikanischen Bundesstaat hatten sich sogenannte Selbstverteidigungsgruppen – paramilitärische Einheiten – gegründet, um die Macht der Drogenbanden zu brechen. Castillo gliederte sie in lokale Polizeistrukturen ein. Seine Gegner warfen ihm jedoch vor, vor allem gegen lokale Regierungskritiker vorgegangen zu sein.
Nieto und Castillo kennen sich schon länger. Beide begannen ihre politische Karriere im Bundesstaat Estado de México. Unter dem damaligen Gouverneur Nieto war Castillo zunächst Vize- und später Generalstaatsanwalt. Als Qualifikationen für den Chefposten bei Conade brachte Castillo seine Nähe zu Präsident Nieto und seine Begeisterung für Paddel-Tennis mit, schreibt Ana Ordorica, Kolumnistin der Tageszeitung Excelsior, in sarkastischem Tonfall. »Ich glaube, es handelt sich hier um einen Freundschaftsdienst. Der Präsident kann und sollte sich nicht von solchen Verbindungen leiten lassen und sie allem anderen voranstellen. Hat man zum Beispiel einen Fleischer, macht man ihn auch nicht zum Kleiderverkäufer. Etwas in der Art hat er aber mit Castillo gemacht, einem Polizisten, der plötzlich als Chef einer Sportbehörde aufwacht«, so Eduardo Huchim May, politischer Beobachter, im Gespräch mit dem Webportal La Opinión. »Und das Resultat kann man sehen.«
In eine ähnliche Kerbe schlägt Alonso Pérez González, Präsident des Baseballverbands: »Was kann man schon erwarten von einem verkrusteten, frustrierten Polizisten im me­xikanischen Sport? Nichts Nützliches, sondern Schlechtes und Schaden. Er hat mit allem Schluss gemacht: mit der nationalen Olympiavorbereitung, der Universiade, der Schulsport taucht in der Bildungsreform nicht auf und was er in Rio veranstaltet, ist zum Totlachen.«
Seit Castillos Amtsantritt gibt es Kontroversen. Er legte sich mit Contreras, dem Chef dem Boxverbandes, und Antonio Lozano vom Leichtathletikverband an und forderte öffentlich ihre Rücktritte. Den Bogenschützen strich er die Mittel und ersetzte die Präsidenten von Ringer- und Pelota-Verband durch ihm nahestehende Leute. Wie so oft in Mexiko geht es um Macht, Geld und Einfluss zwischen den Funktionären von Conade, NOK und den einzelnen Sportverbänden. Leidtragende sind die Sportler. »Das ist wie bei einer eine Scheidung, und wir stecken mittendrin«, so Aída Román. »Fehlendes Geld ist nicht das Problem«, findet Juan Luis Barrios, zweifacher Goldmedaillensieger über 5 000 Meter Laufen bei den Panamerikanischen Spielen. »Das Problem ist, dass es nicht in die Athleten investiert wird.«
In der Tat gibt es viel zu wenige Trainer und keine breitangelegte Talentförderung, Spitzenleistungen sind in der Regel Resultat individueller Anstrengung und Opfer. Der Rechtswissenschaftler und Philosoph Luis Felipe Bravo Mena erkennt darin Parallelen zur Situation des Landes. Die Probleme bestünden seit Jahren und seien strukturell – soziokulturell, wirtschaftlich und politisch, schreibt er in einer Kolumne der Tageszeitung El Universal. Jahrhundertelanger Paternalismus durch Kolonialmächte, Staat und Kirche hätten ebenso ihren Anteil wie das Fehlen von Investitionen und langfristigen Planungen im Spitzensport. »Der Olympische Sport Mexikos ist dem Bild des Priismus (dem auf Klientelismus und Kooperativismus beruhenden Staatsverständnis der langjährigen Regierungspartei PRI) nachempfunden und ähnelt ihm. Dort kennt man nichts dem demokratischen Übergang, der Transparenz oder dem ­Rechenschaftsbericht Vergleichbares. Die Mehrzahl der Sportverbände, das NOK und Conade sind Jagdreviere von Kaziken, Plattformen zur Vetternwirtschaft und Inseln der Korruption und des Amtsmissbrauchs. Alf­redo Castillo ist der Inbegriff dieses Trümmerhaufens.«