Die Schwäche der Gewerkschaften vergrößert die soziale Ungleichheit

Kompromisse lohnen nicht

Die soziale Ungleichheit in Deutschland wächst. Die Schwäche der Gewerkschaften spielt dabei eine bedeutende Rolle.

Ungleichheit lässt sich messen. Geht es um soziale Ungleichheit in Deutschland, sind die Messergebnisse nicht erfreulich. Der kürzlich vorgestellte »WSI-Verteilungsmonitor« des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung fasst die wichtigsten Daten zur Vermögens- und Einkommensverteilung in Deutschland zusammen. Dabei zeigt sich, dass die Ungleichheit bei den Einkommen und bei der Verteilung von Vermögen gewachsen ist.
So stieg bei den verfügbaren Haushaltseinkommen der sogenannte Gini-Koeffizient vor allem zwischen 1999 und 2005 kontinuierlich an. Mit dem Gini-Koeffizienten lassen sich Ungleichverteilungen jeglicher Art mit einem Wert zwischen 0 und 1 darstellen. Er ist der Maßstab für die Einkommens- und Vermögensverteilung einzelner Länder. Je höher er ausfällt, desto höher ist die Ungleichverteilung. Besonders drastisch fällt in Deutschland die Ungleichheit bei der Vermögensverteilung aus. Hier liegt der Gini-Koeffizient bei 0,76. Deutschland ist damit innerhalb der Euro-Zone nach Österreich das Land mit der höchsten Vermögens­ungleichheit und nimmt auch international einen Spitzenplatz ein.
Deutlich wird dies beispielsweise daran, dass die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens und die reichsten 0,1 Prozent fast ein Viertel des Vermögens besitzen. Dagegen verfügen fast drei Viertel aller Haushalte über ein Vermögen unterhalb des Durchschnitts. Die unteren 20 Prozent besitzen gar kein Vermögen oder sind verschuldet. Zugleich wächst auch die Zahl der Armen. Der gängigen Definition zufolge gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommens zur Verfügung hat. Darunter fallen inzwischen mehr als 14 Prozent der Bevölkerung. Lag der Anteil der Armen bis Mitte der neunziger Jahre noch bei etwa zehn Prozent, stieg er wegen der »Agenda 2010« der rot-grünen Bundesregierung im Verlauf der nuller Jahre rasant an.
Dass soziale Ungleichheit und Armut wachsen, stellen offensichtlich auch weite Teile der Bevölkerung fest. In einer repräsentativen Umfrage der Friedrich-Ebert Stiftung, die diese soeben in der Studie »Wachsende Ungleichheit als Gefahr für nachhaltiges Wachstum« vorstellte, gaben 82 Prozent der Befragten an, »dass die soziale Ungleichheit in Deutschland mittlerweile zu groß« sei. Diejenigen, die die soziale Ungleichheit als zu groß ansehen, fragte die Friedrich-Ebert Stiftung zudem, welche Maßnahmen geeignet wären, soziale Unterschiede zu verringern. Die Befragten befürworteten neben der stärkeren Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen sowie einer steuerlichen Entlastung von mittleren und unteren Einkommen vor allem eine Erhöhung der Löhne und Gehälter. 72 Prozent der Befragten würden dies befürworten. Dies ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die Löhne in Deutschland seit Jahren deutlich langsamer steigen als die Unternehmensgewinne. Von 1995 bis 2014 wurden die durchschnittlichen Bruttolöhne um etwa 48 Prozent erhöht, die Unternehmens- und Vermögensgewinne wuchsen hingegen um etwa 67 Prozent. Vom wachsenden Wohlstand bekommen die Lohnabhängigen also immer weniger ab.
Dass es so weit kommen konnte, liegt auch am Bedeutungs- und Mitgliederverlust der DGB-Gewerkschaften. Ihnen gelingt es häufig nicht mehr, höhere Löhne und Gehälter durchzusetzen.
In den vergangenen zehn Jahren verloren die acht Mitgliedsgewerkschaften des DGB zusammen beinahe 700 000 Mitglieder. Mittlerweile sind nur noch 17,5 Prozent der lohnabhängig Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, während in den neunziger Jahren noch bis zu 40 Prozent Mitglied einer Gewerkschaft waren.
Der Mitgliederschwund ist fatal für die klassischen Industriegewerkschaften. So verlor die IG Bergbau, Chemie, Energie in den vergangenen zehn Jahren fast 13 Prozent, die wesentlich kleinere IG Bauen-Agrar-Umwelt sogar fast 30 Prozent ihrer Mitglieder. Die damit einhergehende mangelnde Durchsetzungsfähigkeit hat Auswirkungen auf alle Beschäftigten. Waren 1996 die Löhne von 82 Prozent aller Arbeitnehmer durch Tarifverträge geregelt, sind es mittlerweile nur noch 57 Prozent.
Deutlich wird die fehlende Verhandlungsmacht der Gewerkschaften auch, wenn man sich die Streikstatistik der vergangenen anderthalb Jahre genauer betrachtet. So gilt 2015 als das intensivste Streikjahr der vergangenen zehn Jahre. Fast zwei Millionen Streiktage sammelten die Beschäftigten an, das Fünffache im Vergleich zum Vorjahr. Allerdings entfielen dabei allein 1,5 Millionen Streiktage auf die Auseinandersetzungen bei der Deutschen Post und im Sozial- und Erziehungsbereich. Beide Streiks endeten für die Gewerkschaft Verdi wenig erfolgreich. Der Streik bei der Post war ein klassischer Abwehrkampf, um die Ausgliederung der Paketzustellung in ein Tochterunternehmen zu verhindern, was trotz mehrwöchiger Arbeitsniederlegungen misslang. Im Sozial- und Erziehungsdienst blieb das erreichte Ergebnis trotz langer Streiks ebenfalls weit hinter den Erwartungen zurück.
Abgesehen von diesen beiden Auseinandersetzungen handelte es sich bei der großen Mehrheit der erfassten Streiks um Konflikte im Zusammenhang mit Haus- und Firmentarifverträgen. Solche Auseinandersetzungen sind darauf zurückzuführen, dass sich immer mehr Unternehmen aus den Flächentarifverträgen verabschieden. Es sind also ebenfalls Abwehrkämpfe. Einigen die Gewerkschaften sich dann mit den Unternehmern, müssen sie häufig erhebliche Abstriche im Vergleich zum Flächentarifvertrag hinnehmen.
Bereits nach dem ersten Halbjahr 2016 ist abzusehen, dass sich die Zahl der Arbeitskämpfe wieder auf dem Niveau der vorhergehenden Jahre bis 2014 bewegen wird. Das WSI rechnet mit einem Rückgang der Streiktage auf etwa ein Viertel des Jahres 2015. Trotz der großen Branchentarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie sowie im öffentlichen Dienst im Frühjahr 2016 ging die Zahl der Ausfalltage durch Streiks drastisch zurück.
Trotz des für deutsche Verhältnisse intensiven Streikjahres 2015 bleibt die Zahl der Arbeitsniederlegungen im internationalen Vergleich gering. Fielen in den vergangenen zehn Jahren hierzulande im Jahresdurchschnitt pro 1 000 Beschäftigte rechnerisch 15 Arbeitstage durch Streik aus, waren es in Frankreich 132 Tage und in Dänemark 124 Tage. Auch in Belgien, Spanien, Irland und Finnland wird bedeutend häufiger die Arbeit niedergelegt als in Deutschland. Nur in Österreich und einigen osteuropäischen Staaten streiken Beschäftigte im europäischen Vergleich noch seltener.
An der mangelnden Bereitschaft der deutschen Beschäftigten liegt die Zurückhaltung jedoch nicht. Viele sind durchaus bereit, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen. So beteiligten sich 2015 mehr als 1,1 Millionen Beschäftigte an den Arbeitskämpfen, auch 2016 legte bereits mehr als eine Million zeitweise die Arbeit nieder. Allerdings sind der Streikwille der Gewerkschaften und die Ergebnisse der Arbeitskämpfe zumeist eher kümmerlich. So kam es trotz hoher Beteiligung am Warnstreik weder im öffentlichen Dienst noch in der Metall- und Elektroindustrie zu Erzwingungsstreiks, beide Tarifrunden endeten mit nur geringen Lohnerhöhungen.
Kein Wunder, betonen doch alle DGB-Gewerkschaften in ihren Veröffentlichungen, dass das Mittel des Streiks für sie die Ultima Ratio sei. So heißt es in Broschüren der beiden größten DGB-Gewerkschaften IG Metall und Verdi gleichlautend: »Der Streik ist immer das letzte Mittel, um berechtigte Forderungen der Gewerkschaften durchzusetzen.« Auch die Erfahrungen des Streiks im Sozial- und Erziehungsbereich im vergangenen Jahr zeigen, dass die Gewerkschaften nicht gewillt sind, ihre Strategie der schnellstmöglichen Deeskalation aufzugeben. Sie setzen weiter auf den viel beschworenen »Klassenkompromiss« der so­zialen Marktwirtschaft. Dass dieser bereits seit langem von der Gegenseite aufgekündigt wurde, scheint sie von ihrem einmal eingeschlagen Weg nicht abbringen zu können.