Der Berliner Theaterstreit ­verdeutlicht die Schwierigkeit, dem Weltlauf künstlerisch zu widerstehen

Theatralisches Marketing

Um die Berliner Volksbühne wird gestritten. Es handelt sich um eine dramatische Provinzposse, die längst Züge eines Kulturkampfs trägt.

Die Wirklichkeit übertrifft an dramatischer Qualität so manches Mal das Geschehen der Theaterbühnen. So wird zum Beispiel eine Art Lehrstück, ohne Lehre freilich, zurzeit in Berlin aufgeführt. Das Personal besteht aus Politikern, Museums- und Theatermenschen sowie Journalisten und Philosophen. Hauptgegenstand: die Volksbühne am Rosa-­Luxemburg-Platz. Was bisher geschah: Der Regierende Bürgermeister, vor ­allem als Nachfolger seines Vorgängers bekannt, und sein Kulturstaats­sekretär, beide mit SPD-Parteibuch, haben beschlossen, in Sachen Kreativstadt und Touristenattraktion zukunftsträchtige Entscheidungen zu treffen. So beriefen sie einen Museumsspezialisten zum Intendanten der Volksbühne. Der Museumsspezialist war zuvor sehr erfolgreich in München und London – nicht im Theater, versteht sich, sondern im Museumswesen –, das qualifizierte ihn ausreichend, denn Erfolg legitimiert sich bekanntlich selbst. Nun ist die Volksbühne auf ihre Weise auch erfolgreich gewesen. Ivan Nagel prophezeite Anfang der neunziger Jahre, als über die Zukunft der Volksbühne beraten wurde, dass es zwei Optionen gebe, was das Theater in der Nähe des Alexanderplatzes werden könnte: berühmt oder tot. Die Hauptstadtsozialdemokratie tut derzeit ihr Bestes, künftig beides zu verbinden.
Die Volksbühne als Marke zu Markte zu tragen, bedeutet, sie kommensurabel zu machen. Der Tourismus als »menschliche Zirkulation« (Guy ­Debord) muss das Objekt, das er als einzigartig und begehrenswert ausstellt, notwendig austauschbar machen und zerstören. Die Erfahrung von Differenz gibt es dann auch nicht mehr. Der Raum wird zum Bühnenbild des Kapitals, wie Debord in »Die Gesellschaft des Spektakels« schreibt. Gegen die große Inszenierung der betont lockeren Kreativstadt Berlin kann die Bühnenkunst eines einzelnen Theaters wenig ausrichten – aber die Möglichkeit der Gegeninszenierung gibt es eben doch. Beides wird dann aber künftig eins: »Protest is part of our brand«, sagte der Museumsspezialist unlängst, der Protest soll Teil der Marke sein. Das erfolgreiche Stadtmarketing zeichnet sich ja gerade durch die Behauptung der scheinbar authentischen Differenz aus.
Wenn man den Streit um die Volksbühne in den vergangenen Monaten zusammenfassen sollte, könnte man es ungefähr so darstellen: Der Museumsspezialist, ein gebürtiger Belgier namens Chris Dercon, hat nahezu drei Millionen Euro bekommen, um seine Intendanz vorzubereiten. In ­Interviews hatte er mehrfach betont, dass es sein Ziel sei, »die Stadt zu ­inszenieren«. Währenddessen haben zahlreiche Mitarbeiter der Volksbühne einen offenen Brief an die Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus unterzeichnet, in dem man der Sorge wegen des anstehenden Intendantenwechsels und der damit verbundenen künstlerischen Neuausrichtung des Hauses Ausdruck ­verleiht. Kurz darauf gab es einen offenen Brief von Museums- und sonstigen Kulturmachern zur Unterstützung Dercons, die ihrer »Bestürzung« Ausdruck verliehen, dass sich die Mitarbeiter der Volksbühne zu Fragen wie der künstlerischen Ausrichtung und der damit verbundenen Personalentscheidung überhaupt zu äußern wagen. Das sei ein »Missbrauch von Privilegien«. Sie werden’s wissen müssen.
Ein zeitweise im Roten Salon der Volksbühne residierender Philosoph hat zur Gründung einer Volksbühnenbewegung im proletarischen Geist der Jahrhundertwende aufgerufen. Massendemonstrationen zum Erhalt der Volksbühne sind bislang allerdings ausgeblieben. Zur gleichen Zeit schreibt der sozialdemokratische Kulturstaatssekretär SMS-Nachrichten an die Kollegen von der CDU, dass sie lieb zu seinem Protegé sein und ihm viel Geld geben sollen, weil die Linkspartei bestimmt böse auf ihn sei. Der Inhalt der SMS gelangt schon bald in die Hände der Berliner Presse. »Dass ich ihren Sockelheiligen F. Castorf nicht verlängert habe, werden die mir nie verzeihen«, hatte Tim Renner geschrieben. Es klingt zeitweise wie eine Provinzposse, ist aber doch mehr: Der Streit um die Volksbühne trägt die Züge eines ­Kulturkampfs. Und im Kulturkampf gilt: Immer feste druff. Selbstverständlich nur verbal.
Nun ist inzwischen ein Politiker der Linkspartei und einer der Unterstützer des ersten offenen Briefes, also dem der Volksbühnenmitarbeiter, zum designierten Kultursenator der rot-rot-grünen Regierungskoalition in Berlin ernannt worden, was auf der Seite der Freunde der Volksbühne für die zarte Hoffnung sorgt, dass in der Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen sein könnte. Vielleicht könne man den Vertrag auflösen oder Dercon ein anderes Haus in Berlin zum Spielen geben, hört man. Ebenso gab es Spekulationen, wer wohl als Alternative für die Leitung der Volksbühne bereitstehen könnte, ein Hausregisseur oder ein scheidender Intendant aus der fernen baden-württembergischen Landeshauptstadt. Der demnächst zuständige Politiker, Klaus Lederer, hingegen hat sich bislang nicht eindeutig geäußert. Man müsse »nachdenken«, »sich zusammensetzen« und »gucken, wo da Spielräume sind«. Die Frage bleibt, wer am Ende wo spielen muss. Und mit wem.
Inzwischen ist bekannt geworden, dass der noch amtierende Intendant als Regisseur an das Berliner Ensem­ble wechselt, einer der Hausregisseure geht an die Schaubühne am Lehniner Platz. Der Umbruch findet statt. Nun hat sich der künftig zuständige Politiker aber doch hinreißen lassen, in einem Radiogespräch die vorsich­tige Formulierung zu verwenden, dass die Personalie Dercons »überprüft« werde. Postwendend wurde der Politiker in der Berliner Zeitung daran er­innert, dass er gefälligst keine Politik zu machen habe. Von »Imageschaden« war da zu lesen und »Rechtsunsicherheit wie in einer Bananen­republik« – es geht, wohlgemerkt, um jemand, der bei einer Auflösung ­seines Vertrags geschätzt bis zu 8 Millionen Euro Abfindung zu erwarten hat, wie an gleicher Stelle zu lesen ist, wobei unklar ist, wie man auf eine solche Summe kommt und warum sie lanciert wird.
Die Feuilletondebatte erreicht neue Tief- und Höhepunkte. Um bei ersteren zu beginnen: In der Welt erscheint ein Beitrag – sieben Minuten Lesedauer –, der zwischen Minute eins und sechs aufzählt, wie viele Volksbühnensticker, -plakate und -streichholzschachteln die Verfasserin schon gesammelt hat. Diese betont zudem, dass 25 Jahre auch echt eine lange Zeit seien, vor allem für Leute im Alter zwischen 25 und 30 Jahren. So lange ist der derzeitige Intendant nämlich schon an der Volksbühne. In Minute sieben ereignet sich die über­raschende Wendung: »Es reicht.« Die Verfasserin hat offenbar genügend Streichholzschachteln, um auch als Nichtraucherin ohne ausgeprägte pyromanische Gelüste die nächsten 25 Jahre gut ausgerüstet zu sein. »Ist es nicht vielleicht besser, wenn sich etwas verändert, fast egal, was?«, so die Schlussfolgerung.
Kurz darauf antwortet in der FAZ ein Frankfurter Philosoph. Der Beitrag macht darauf aufmerksam, dass der Volksbühne im vergangenen Vierteljahrhundert etwas gelungen sei, was man von kaum einem anderen Theater behaupten könne: dass sich Kunst, also ästhetische Konsequenz, entwickeln konnte. Wer an der Volksbühne gearbeitet habe – Bühnenbildner, Schauspieler, Regisseure –, habe die Möglichkeit nutzen können, an der Ausbildung von Formen zu arbeiten, in der Verbindung von Experiment und Konsequenz. Auf dieser Grundlage kann man über die Volksbühne diskutieren. Der Philosoph, Christoph Menke, drückt es in der FAZ wie folgt aus: »Darum geht es in dem Streit um die Fort­existenz der Volksbühne: ob die Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Weltveränderung weiterhin gestellt werden soll.«
Wie bereits angedeutet, hat dieses Berliner Lehrstück möglicherweise keine Lehre. Wie es auch ausgeht, wird es kein gutes Ende geben. Zur Debatte steht, ob ästhetische Auseinandersetzung möglich ist – das wird exemplarisch an dem Fall der Volksbühne diskutiert. Ob Theater als Kunstform möglich ist, hängt von zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ab, die weit über das Lokale hinausweisen und sich doch an bestimmten Punkten konkretisieren. Dass der Kapitalismus im Gesamten keine besonders kunstfreundliche Gesellschaftsform ist, dürfte bekannt sein. Wie schwierig es aber ist, im Einzelnen dem Weltlauf zu widerstehen, zeigt ein solches Lehrstück eben auch. Ohne die Volksbühne zum Ort des Widerstands zu glorifizieren, der sie auch nie war: sie konnte doch zeigen, dass ein Stadttheater mit ­einem Ensemble und eigenen Werkstätten in der Lage ist, eine eigen­sinnige Ästhetik zu behaupten. Man nennt’s dann einfach Kunst. Das ist aber offenbar auch von gestern. Die Zukunft ist dann Stadtmarketing mit theatralen Mitteln.