Eine Verteidigung des britischen Brutalismus

Beton als Waffe und Versprechen

Von Uli Krug

Jahrzehntelang galt brutalistische Architektur als Inbegriff des Unwirtlichen. Doch ihre Ideen gewinnen wieder Freunde.

Schade, dass Beton nicht brennt!« Dieser Slogan hat seine besten Jahre natürlich längst hinter sich, dennoch drückt sich in ihm – wenn man von der altertümlich wirkenden Militanz absieht – ein seit Jahrzehnten gültiger gesellschaftliche Übereinkunft aus. Das Wort ­Beton allein geht nach wie vor als Metapher für die Unwirtlichkeit der Städte und des öffentlichen Raums durch, der Werkstoff steht für das, was aus und mit ihm gemacht wurde.

Tatsächlich sind dessen Fähigkeiten, die vor Generationen noch die Verwirklichung zuvor utopischer Umwälzungen versprachen, oft zum Dys­topischen ausgeschlagen. Statt mit jener Revolution in der Baustatik, die der Beton brachte, human-praktische »Kathedralen des Sozialismus« zu errichten, wie es Lyonel Feininger im ersten Bauhaus-Manifest verhieß, nahm das Produktionsmittel Beton exakt die Gestalt des ihn bestimmenden Produktionsverhältnisses an. Die mit Beton mögliche kostengünstige Hochbauweise versprach der ­Immobilienwirtschaft ganz neue Dimensionen der Bodenrente, sprich eine Vervielfachung der Mieter und Mieteinnahmen pro Flächeneinheit – die Assoziation von Beton mit der Zerstörung der (Alt-)Städte hat hier ihren realen Gehalt.

 

Beton als soziales Stigma

Die Reduktion der Potentiale des Beton auf seine Billigkeit bestimmte aber nicht nur allzu häufig negativ die Art und Weise, wie er beim Massenbau genutzt wurde, nämlich ­lediglich dazu, den klassischen Mietskasernen nunmehr monströse Proportionen zu verleihen – wenn auch keineswegs verschwiegen werden sollte, dass ein kleiner Teil der Kostenvorteile von Betonbauten wenigstens in Form von fließendem Warm­wasser an die Mieter weitergegeben wurden. Die Billigkeit überträgt sich auch auf die Bewohner, die nur allzu deutlich spüren, dass sie in diesen Bauten lediglich ab- und ausgelagert werden. Beton wirkt als ­soziales Stigma. Insbesondere in und seit den achtziger Jahren sammelte sich die ökonomisch ausgesteuerte und faktisch überflüssige Arbeitskraft in den Klötzen des öffentlichen beziehungsweise öffentlich geförderten Wohnungsbaus am Stadtrand: Die baulich ohnehin – normaler­weise im schreienden Widerspruch zu den ursprünglichen Planungen der Architekten – vernachlässigte Wohnumgebung erschien nicht zu Unrecht als eine Art Müllhalde, auf der man abgeladen worden war. Fernab der nostalgisch-postmodern aufgepeppten Innenstädte entstand ein Nährboden für Vandalismus, Depressionen und Bandenterror; auch das assoziiert man heute nahezu ­automatisch mit den Betonwohnbauten der Nachkriegsjahrzehnte.

Diese tatsächliche Entwicklung aber läuft den sozialen und politischen Intentionen der Nachkriegsarchitektur diametral entgegen, ­deren massive, skulpturale Bauidee ja gerade den traditionell offensicht­lichen Unterschied zwischen Quartieren für die Arbeiterklasse und ­denen der Bessergestellten überwinden wollte. Doch es war in den ­vergangenen Jahrzehnten sozialpolitisch durchaus erwünscht, dass die Bilder von monotonen Schlafburgen, die ein allzu sparsamer öffentlicher Wohnungsbau – vor allem in seiner Endphase, in den siebziger Jahren – auf die Wiese gestellt hatte, das Konzept eines durchdachten, egalitär orientierten, öffentlich beauftragten Bauens pauschal in Verruf brachten. Insbesondere in Großbritannien fiel dieser politische Paradigmen­wechsel vom Etatismus zum Spät­liberalismus, der die öffentlichen Bauten der Nachkriegszeit nicht nur ideologisch, sondern auch ganz praktisch durch radikale Vernachlässigung und sinnwidrige Privatisierung zum Schreckbild machte, überaus scharf aus; im zeitgenössischem Englisch ist eines der abschätzigsten Worte für die, die man im Deutschen als »Prolls« oder »Unterschichtler« ­bezeichnet, chavs, das Akronym für »council-housed and violent« (aus ­sozialem Wohnungsbau stammend und gewalttätig).

Eine Ausstellung im schweizerischen Kriens zeigt brutalistische Gebäude in Großbritannien, die der Londoner ­Fotograf Simon Phipps seit bald 30 Jahren dokumentiert.

 

Der Brutalismus: die Art und Weise des Bauens im welfare state

Die Schärfe, die sich auch in solchen Begriffsbildungen ausdrückt, nimmt nicht wunder, denn Mar­garet Thatcher leitete ihre Umverteilungsrevolution in einem Land ein, das in den Nachkriegsjahrzehnten von der Idee bestimmt war, durch staatliche Intervention den schroffen Klassencharakter der traditionellen englischen Gesellschaft und mit ihm die ungleiche Verteilung basaler ­Güter wie Gesundheit und Wohlbefinden zu kompensieren – und damit auch den Preis zu bezahlen, den die Arbeiterbewegung nun für den Klassenkompromiss im Krieg gegen Nazideutschland forderte. Bis zur Ära Thatcher teilten auch die Konservativen die Vorstellung vom welfare state, eine Vorstellung, die nicht nur die große Menge öffentlicher Bauten in dem zerstörten Land begründete, sondern auch die Art und Weise des Bauens bestimmte und eine regelrechte Schule der ­modernen Architektur hervorbrachte: den sogenannten Brutalismus.

Ihm ist jetzt eine Ausstellung im schweizerischen Kriens gewidmet; sie zeigt brutalistische Gebäude in Großbritannien, die der Londoner ­Fotograf Simon Phipps seit bald 30 Jahren dokumentiert. Wobei das Wort Dokumentieren die Sache trifft, denn Phipps’ Fotos überliefern tatsächlich manche einstmals preisgekrönte und für den Stil (und das jeweilige Stadtbild) regelrecht ikonische Bauten tatsächlich für die Nachwelt: Nicht wenige von ihnen wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgerissen – wie der »Trinity Square« in Gateshead bei Newcastle, ein 1967 errichtetes Einkaufszentrum samt Parkhaus, das als Kulisse für den Filmklassiker »Get Carter« (1971) diente – oder haben ihren Charakter nach Privatisierung und damit einhergehender Aufhübschung verloren; dabei wurden meist Platten an die Fassaden angebracht, die das ursprünglich bewusst ausgestellte Material – Beton, seltener Klinker – verhüllen sollen. (Das Feuer im ursprünglich brutalistisch konzipierten Grenfell Tower in London fiel genau wegen einer solchen Verschalung so verheerend aus.)

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Blick von der Außentreppe des Zentralgebäudes der Brunel University London, Architekt: Richard Sheppard, fertiggestellt 1968

Bild:
Simon Phipps

Mit derlei optischer Abmilderung drohen ins­besondere die gelungenen brutalistischen Bauten, die zumeist aus der Frühperiode, also der Zeit von Mitte der Fünfziger bis Mitte der Sechziger stammen, das zu verlieren, was sie ausmachen sollte: die Transparenz der Konstruktion und das ­klare, sichtbare Bekenntnis des Gebäudes zum Material, das diese ­Konstruktion erst möglich macht. Daher rührt auch der Name des Stils, den Alison Smithson und Reyner Banham in den frühen Fünfzigern prägten. Er leitet sich von béton brut ab, dem französischen Ausdruck für rohen, also als solchen kenntlichen und sichtbaren Beton.

In dem Maße jedoch, wie die ­öffentliche Hand knauseriger wurde, verwarf man die gewagten Entwürfe der Anfangszeit, mit denen sich der Brutalismus von den Kastenhäusern der dreißiger Jahre eigentlich hatte distanzieren wollen, und kehrte immer häufiger zur einfachstmöglichen Gebäudesilhouette zurück. Faszinierende und atemberaubende Ideen wie die scheinbar freihängenden Wohnblöcke, die auf ­einem deutlich schmaleren Baukorpus aufsitzen (beispielweise Lillington Gardens Estate, London), die über den Straßen mit Brücken verbundenen Gebäude (Carradale House, ­London), die terrassenförmigen ­Fassaden, die jeder Wohnung möglichst viel Licht und Aussicht verschaffen sollten (Dawson’s Heights, London) – all das wurde mehr und mehr zurückgenommen, was den Brutalismus in den nicht immer ­unbegründeten Verruf brachte, »kalte«, »totalitäre« Wohnriegel hervor­gebracht zu haben. Immer seltener gelangen zumindest halbwegs ­akzeptable Kompromisse zwischen brutalistischem Anliegen und kargen Bauvorgaben, wie die vom Architektenehepaar Alison und Peter Smithson konzipierte Wohnanlage »Robin Hood Gardens« (1972) in ­Ostlondon, die der zuständige Bezirk seit nunmehr fünf Jahren abzureißen plant.

Simon Phipps, dessen fotografische Langzeitstudie der Nachkriegsarchitektur anfangs noch belächelt wurde, kann trotz solcher Entwicklungen als Vorreiter einer Strömung gelten, die sich der Rehabilitierung des ­Brutalismus verschrieben hat; die Debatte jedenfalls hat nicht nur ­Ausstellungsräume, sondern auch Feuilletons im deutschsprachigen Raum erreicht. Der Verdacht, den Hanno Rauterberg in der Zeit (36/2016) äußerte, dass sich für die brutalistischen »Reize des Rohen primär jene erwärmen, die auf der stärkeren ­Seite der Gesellschaft stehen und dem Rest der Welt mit ihrer Liebe zur Rauheit signalisieren: Wir haben die nötigen Nehmerqualitäten, wir halten es aus«, ist vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen.

Doch eine andere Lesart liegt näher: dass nämlich die wuchtigen Bauten des Brutalismus daran erinnern – in klarem Gegensatz zur Fluidität und Marktanpassungswillen signalisierenden Architektur der Postmoderne –, dass Beton eine Waffe sein kann gegen Wohnungsnot und Verdrängungsmieten. Und vielleicht sogar noch mehr. Vor allem mit seinen massigen wie freischwebenden Treppenkonstruktionen ruft der Brutalismus ins Gedächtnis, dass im Material Beton die Möglichkeit steckt, das Nötige – das Wohnen – mit utopischer Formensprache zu vereinbaren, also Sicherheit mit Freiheit zu verbinden.

Simon Phipps: Finding Brutalism. Museum im Bellpark, Kriens (Schweiz). Die Ausstellung ist noch bis zum 29. Oktober geöffnet.
Der Ausstellungskatalog ist bei Park Books, Zürich, erschienen und kostet 38 Euro.