Anne Frank als Comicfigur

Erneuerte Erinnerung

Die beiden israelischen Künstler Ari Folman und David Polonsky stellten in Paris ihre Adaption des Tagebuchs der Anne Frank vor.

»Natürlich nicht!« David Polonskys Ablehnung war deutlich, als Ari ­Folman ihm vor vier Jahren von einer Anfrage des Anne-Frank-Fonds erzählte. Die Stiftung mit Sitz in Basel hatte den beiden eine Zusammen­arbeit angetragen und gefragt, ob er, Folman, der Regisseur des Animationsfilms ­»Waltz with Bashir«, und Polonsky, sein kongenialer Illustrator, für eine Graphic Novel zu begeistern seien, die auf Anne Franks Tagebuch basiere. Der Widerwille gegen das vorgeschlagene Projekt verband die beiden ­zunächst. »Alles ist schon ­gesagt und gemacht zu diesem Thema«, fand Polonsky. Folman schreckte nicht zuletzt vor der historischen Dimension der Anne Frank zurück: »Je mehr Angst man vor der Ikonisierung dieser graphischen Figur hat, desto mehr lähmt sie.«

Es dauerte wohl einige Tage, bis die beiden sich besannen. In einer ­langen Diskussion wägten sie das Für und Wider ab. Polonsky reizten die Verantwortung und die Herausforderung – »Als Künstler will ich große Themen haben« –, während Folman, ein Sohn von Holocaust-Überlebenden, ein anderes Motiv angibt: »Wir kommen zu einem Punkt, an dem kein Überlebender mehr übrig ist. Es könnte einen Moment geben, an dem das alles wie eine ­altertümliche Geschichte wirkt.«
Die Zweifel an dem Projekt sind inzwischen Vergangenheit.

Auf Ein­ladung des Anne-Frank-Fonds sind David Polonsky und Ari Folman im September nach Paris gekommen, um in der Maison de la Poésie die Graphic Novel vorzustellen. In 50 Ländern wird die gezeichnete Version des Tagebuchs der Anne Frank in diesem Herbst veröffentlicht, in Deutschland erscheint das Buch Anfang Oktober. Der Anne-Frank-Fonds, der das Vorhaben seit 2009 verfolgte, sieht darin eine »Weltpremiere« des neuen Genres Graphic Diary. Das Buch von Folman und Polonsky ist nicht die erste illustrierte Version des Lebens der Anne Frank, wohl aber die erste, die ausschließlich auf dem Tagebuch als Quelle basiert.

Genau diese Konstellation wurde für Folman, Polonsky und ihr Team, in dem, wie schon für »Waltz with Bashir«, Yoni Goodman für die Storyboards verantwortlich war, zur zent­ralen Herausforderung: Wie kann man dem historischen Dokument, den Personen und ihrer Biographie gerecht werden, ohne die eigene künstlerische Freiheit aufzugeben? Folman und Polonsky betonen, man habe ihnen alle Freiheiten gelassen, die Geschichte genregerecht aufzubereiten.
Auf knapp 150 Seiten schildern sie das Leben des Mädchens. Die Darstellung folgt der strikten Chronologie des Tagebuchs, die Panels werden fortlaufend mit Zeitangaben versehen. Autor Folman musste dabei »sehr harte Entscheidungen« treffen, um jeweils 30 Seiten Tagebuch auf zehn gezeichnete Seiten zu bringen. Ein häufiges Stilmittel ist es, die einzelnen Szenen halb- oder ganzseitig aus den Panels wie durch einen Zoom herauzuheben.

»Es geht darum, die ­Story zum Leben zu erwecken«, so Polonsky. »Und bei dieser Familie macht Humor einen großen Teil aus. Das Beste, was wir tun können, ist, diese Geisteshaltung weiterzuführen und als Kunstwerk zu betrachten.«

Die Tagebuchadaption leuchtet die Persönlichkeit der jungen Protagonistin aus, zum Beispiel in der immer wieder auftauchenden Konkurrenz zur älteren Schwester Margot. Darüber hinaus illustriert sie das komplexe soziale Gefüge im Hinterhaus an der Prinsengracht, etwa wenn die acht um den immer spärlicher gedeckten Abendbrottisch sitzenden Untergetauchten als Tiere dargestellt werden oder als Aufziehfiguren, von denen jede einen einzigen, typischen Satz endlos wiederholt. Dabei ließen sich die Autoren von der ­bemerkenswerten Beobachtungsgabe Anne Franks inspirieren, wie Folman bei der Präsentation in Paris mehrfach hervorhebt.

Mit der Vergrößerung einzelner Szenen gerät auch der politische und gesellschaftliche Kontext in den ­Fokus. Etwa wenn im besetzten Amsterdam des Sommers 1942 ein Schiffer die Frank-Schwestern, die als Jüdinnen weder die Tram noch Fahrräder benutzen dürfen, auf die andere Seite eines Wasserlaufs bringt. Am Ufer steht eine Reklamesäule mit dem Plakat zum Kinofilm »Frauen sind doch bessere Diplo­ma­ten«. Ufa-Star Marika Rökk verkündet in einer Sprechblase: »Ich trete nicht vor jüdischen Schweinen auf!«

 

Graphic Diary: Eine Hommage an Anne Frank und eine Mission

Hier und da unterbrechen Polonsky und Folman ihre Bildergeschichte und drucken vollständige Briefe Anne Franks an ihre fiktive beste Freundin Kitty, umrahmt von Illustrationen. Meist sind dies Passagen von großer Intimität. Es geht um tief- und scharfsinnige Reflexionen über das getrübte Verhältnis zur Mutter oder die Ehe der Eltern. David Polonsky nennt das gemeinsame Werk eine »Hommage« an Anne Frank als eine wundervolle Person. Ari Folman rühmt das Tagebuch, indem er die Grenzen seiner eigenen künstlerischen Mittel einräumt: »Es ist pure Literatur. Es wäre beleidigend, das in graphische Sprache zu übersetzen. Ich denke nicht, dass ich das mora­lische Recht habe, es zu berühren.«

Im Verlauf der Handlung wird die starre Ordnung der Panels mehr und mehr geöffnet – für Retrospektiven, Träume und nicht zuletzt für die Darstellung von Anne Franks Gefühlen gegenüber ihrem Schicksalsgenossen Peter van Pels. Hervorgehoben werden zudem ihre Depressionen, die Ängste beim Heulen der Sirenen, die Bomben ankündigen, aber auch ihr Humor. »Es geht darum, die ­Story zum Leben zu erwecken«, so Polonsky. »Und bei dieser Familie macht Humor einen großen Teil aus. Das Beste, was wir tun können, ist, diese Geisteshaltung weiterzuführen und als Kunstwerk zu betrachten.«
Für die beiden israelischen Künstler macht der Holocaust einen Teil ihres alltäglichen Lebens aus. »Kein Tag vergeht, ohne dass er auftaucht«, betont Polonsky, dessen Familie den Nazis in der damaligen Sowjetunion entkommen konnte. Die Eltern von Ari Folman wurden am selben Tag wie die Franks nach Auschwitz ­deportiert, sie kamen allerdings mit späteren Zügen und überlebten. »Wenn Anne über Verhungern und das Fehlen von Brot schreibt, er­innert mich das sofort daran, dass meine Eltern später niemals irgendwelches Brot wegwarfen. Mein Vater fror sogar Reste ein, dann machte er Krumen draus und benutzte sie zum Kochen.«

Das Vernichtungslager war in Folmans Familie von früher Kindheit an als Referenz präsent. »Seit ich sechs war, hörte ich Geschichten über den Holocaust, harter Stoff. In diesem Sinne war das, was die Familie Frank durchmachte, für mich nichts Sensationelles.« Für seine künstlerische Auseinandersetzung mit Anne Franks Tagebuch, so Folman, sei es ein Vorteil, aus dieser Welt zu kommen. Zugleich erfuhr der Filme­macher durch seine Biographie eine Verpflichtung: Das Projekt Graphic Diary wurde zu einer Mission, die er unbedingt zu Ende bringen musste.

Die Getriebenheit hat einen weiteren Grund: Die letzten Überlebenden werden älter und älter. Ari Folman macht sich Sorgen, dass der Blick auf die Shoah nach ihrem Ableben immer abstrakter wird. Zugleich kommen neue Generationen nach, die für die bisherigen schriftlichen Quellen weniger empfänglich seien. »Sie wachsen auf mit einem Mobil­telefon in der einen Hand und Joystick in der anderen. Deshalb sind ihre Werkzeuge völlig anders als die, die wir vor Jahren hatten.«

Vor diesem Hintergrund muss das Graphic Diary gesehen werden. Die Stiftung in Basel bemüht sich schon seit längerem, dem Gedenken neue Ausdrucksformen zu öffnen – etwa mit einem Theaterstück, das 2014 in Amsterdam uraufgeführt wurde. Folman und Polonsky sind derzeit auch mit Arbeiten an einem Animationsfilm beschäftigt, der 2019 fertig werden soll. »Eine globale Antwort habe ich nicht«, so der Filmemacher auf die Frage nach einer neuen Sprache der Erinnerung. »Ich weiß nur, dass wir eine finden müssen, sonst wird die junge Generation davonlaufen. Dies ist unser Beitrag.«