Die Soziologin ­Zsuzsa Ferge im Gespräch über Armut in Ungarn

»Die Regierung möchte das Problem verstecken«

Interview Von Karl Pfeifer

Zsuzsa Ferge, 86, ist emeritierte Professorin für Soziologie und hat zahlreiche Werke über die soziale Lage während des Regimes János Kádárs in Ungarn zwischen 1957 und 1989 und die sozialen Verwerfungen der postkommunistischen Übergangsperiode verfasst. Sie ist Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. 2017 erschien ihr neuestes Buch »Die ungarische Sozialpolitik von 1990 – 2015«. Ende September nahm sie in Budapest an der Konferenz »Armut in Ungarn« teil, organisiert von der Gruppe »Stadium 28«, die sich aus Mitgliedern der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie anderen Akademikern zusammensetzt.

Bereits 1979 machte der Soziologe István Kemény auf die prekäre Lage der Roma in Ungarn aufmerksam. Auf der Konferenz »Armut in Ungarn« schilderte der Roma-Rechtler Jenő Setét kürzlich, wie Roma im Alltag diskriminiert werden und dass keiner seiner Onkel älter als 50 Jahre wurde. Hat sich seit den Siebzigern an der Lage der ungarischen Roma nichts geändert?

Eine Menge hat sich geändert. Ihre Lage hat sich seither wesentlich verschlechtert. Als Kemény seine Umfrage publizierte, hatten 90 Prozent der Romamänner und 70 Prozent der Romafrauen eine Arbeit und verdienten ihren Lebensunterhalt. Die meisten hatten die Romaghettos verlassen und wohnten in mehr oder weniger guten Wohnungen. Trotzdem war alles, was Kemény schrieb, wahr: Die Roma waren ärmer und vielen gelang es nicht, die Schule zu beenden. Jedoch war ihre Lage damals besser als 30 Jahre zuvor und viel viel besser als derzeit, über 30 Jahre später.

»Wenn man nicht dafür zahlen kann, wird früher oder später das Wasser abgedreht. So müssen Bewohner von Roma-Ghettos 200 Meter und weiter gehen, um Wasser zu holen.«

Woran liegt das?

1990 wurde in Ungarn alles privatisiert, die Schwerindustrie und die großen Firmen, und mit einem Schlag gingen 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren. 70 Prozent der Roma verloren ihre Arbeit, sie waren unter den ersten, die entlassen wurden. Die meisten Roma blieben arbeitslos. Da die Regierungen seither gleichgültig gegenüber den Armen waren, insbesondere die seit 2010 amtierende Regierung von Viktor Orbán, nimmt die Diskriminierung von Roma zu.

Setét kritisierte auf der Konferenz auch die Regierungspropaganda, derzufolge jeder, der möchte, eine Arbeit finden könne. Er sagte zudem, diejenigen, die in den öffentlichen Arbeitsmaßnahmen erniedrigt würden, um staatliche Leistungen zu erhalten, dienten als abschreckendes Beispiel, »das eine Revolte gegen die Regierung verhindert«. Was sagen Sie dazu?

Was Setét sagt, ist wahr. Die Regierung will die wirklichen Probleme unterschlagen und die Menschen zu Hass anstacheln. Das heutige Ungarn ist von einer Hasskultur geprägt, Hass gegen Flüchtlinge, Hass gegen George Soros.
Die Methode des Ministerpräsidenten war es, »das Volk zu konsultieren«, mit einem sieben Fragen beinhaltenden Brief, den alle Ungarinnen und Ungarn erhielten. Darauf sollte man anonym antworten. Der Ministerpräsident fragte zum Beispiel, was man über den »Soros-Plan« denke, jährlich eine Million muslimische Einwanderer nach Europa zu bringen und Ähnliches. Den Hass gegen die Flüchtlinge und gegen Soros zu richten, ist ein impliziter Weg, um den Hass gegen Roma und Juden zu richten. So können die Flüchtlinge, eine kleine Minderheit, ersetzt werden durch Roma und Soros repräsentiert die »jüdische Weltverschwörung«.

Die Soziologin Éva Havas, die auf soziale Statistik spezialisiert ist, erwähnte, dass das ungarische zentrale Statistikamt vor einigen Jahren die Messung des Existenzminimums abgeschafft habe. Ihrer Kalkulation zufolge leben zurzeit 37,3 Prozent der Ungarinnen und Ungarn unter dem Existenzminimum. Ist die Armut in Ungarn mittlerweile offener sichtbar?

Es gibt Statistiken, es gibt die Realität und es gibt die Informationen der Regierung. Die drei Aspekte widersprechen sich. Die Regierung möchte das Problem verstecken. Während dieser akademischen Konferenz erfuhren wir, wie schwierig das Messen von Armut ist, aus mehreren Gründen. Deswegen sind die statistischen Werte der verschiedenen Aspekte von Armut den europäischen Durchschnittszahlen sehr ähnlich. Dort, wo es um die Verfügbarkeit von Gütern und die Möglichkeiten geht, grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen, befindet sich Ungarn allerdings in der europäischen Rangliste weit unten, in der Regel kommen danach nur noch Rumänien und Bulgarien. Dann gibt es die Realität, die zeigt, dass die Mehrheit der Armen – Roma und Nichtroma – keine Qualifikation hat und somit keine Möglichkeit, eine Arbeit zu finden, mit Ausnahme dessen, was öffentliche Arbeit genannt wird. Das ist keine richtige Arbeit und diese Leute werden langsam, aber sicher in die Dörfer zurückgedrängt. Sie werden dadurch unsichtbar.

Was heißt das speziell für Roma?

In den Dörfern entstehen wieder Roma-Ghettos wie früher. Vor 20 Jahren wurden diese vom ausgezeichneten britischen Soziologen John Rex folgendermaßen definiert: Die Roma-Ghettos beginnen dort, wo die Müllabfuhr nicht mehr hinkommt. Die örtlichen Behörden lassen in diesen Ghettos den Müll nicht einsammeln; diese werden zu verschmutzten, bedrückenden Orten.
Theoretisch sollten alle Häuser und Wohnungen Wasser haben. Aber wenn man nicht zahlen kann, wird früher oder später das Wasser abgedreht. So müssen die Bewohner dieser Ghettos 200 Meter und weiter gehen, um Wasser zu holen. Obwohl Wasser ein Grundbedürfnis ist, wird es von dieser Regierung nicht als solches angesehen.
In jedem Fall stellt Armut die Menschen vor extreme Schwierigkeiten: Unterernährung, keine ausreichende medizinische Versorgung, kaum Möglichkeiten, einen Arzt zu besuchen oder Medikamente für die Kinder zu kaufen, und diese können nur sehr, sehr schlechte Schulen besuchen.

Was tut der Staat in der Bildungspolitik?

Anstatt zu versuchen, geeignete Schulen und geeigneten pädagogischen Unterricht zu bieten für Kinder, die aus benachteiligten Familien kommen, und damit etwas in den Schulen zu kompensieren, werden die Schulen immer schlechter. Eine der jüngsten Regierungsverordnungen sieht vor, dass seit dem Sommer auch Menschen ohne geeignete Qualifikation lehren dürfen. Bislang musste man ein Diplom haben, um an Schulen zu lehren. Mittlerweile ist das nicht mehr notwendig.
Deswegen haben diese Kinder keine Chance, aus diesen Dörfern herauszukommen und eine Qualifikation für den Arbeitsmarkt zu erwerben. Dazu kommt noch, dass mit der Schulreform das Alter, in dem die Schulpflicht gilt, von 18 auf 16 Jahre heruntergesetzt wurde. Auch die Verordnung, dass man die Schule erst verlassen kann, wenn man wenigstens die acht Klassen Volksschule absolviert hat, wurde aufgehoben. Jetzt können 16jährige die Schule verlassen, auch wenn sie lediglich drei Klassenstufen absolviert haben, weil sie die Schuljahre so oft wiederholen mussten.