Die Sportlerproteste bei den Olympischen Sommerspielen in Mexiko-Stadt 1968

In Bewegung gebracht

Die Olympischen Sommerspiele in Mexiko 1968 waren der Höhepunkt weltweiter Sportlerproteste. Von ihnen blieb weit mehr als ein Foto.

Tommie Smith und John Carlos haben es in die Geschichtsbücher geschafft. Sie sind nämlich die zwei US-amerikanischen Sprinter, die 1968 ihre Fäuste in den Nachthimmel von Mexiko-Stadt streckten. Der Olympiasieger und der -dritte im 200-Meter-Lauf schauten bei der Siegerehrung auf den Boden, denn sie wollten die Flagge nicht ehren.

Eine komplizierte Choreographie hatten sich Smith und Carlos ausgedacht: Faust hoch, Blick runter war nur ihr sichtbarster Teil. Beide waren ohne Schuhe, nur auf schwarzen Strümpfen gekommen. »Wir wollten der Welt zeigen, dass in Mississippi, Alabama, Tennessee, South Central Los Angeles und in Chicago Menschen in Armut leben. Dass da Kinder sind, die sich keine Schuhe leisten können«, sagte John Carlos vor wenigen Jahren. Um seinen Hals trug er eine Perlenkette. »Diese Perlen standen für die Menschen, die gelyncht oder einfach so ermordet worden waren, für die keiner ein Gebet sprach.« Carlos hatte zudem noch den Reißverschluss seiner Trainingsjacke nicht zugezogen. »Damit wollte ich die Schichtarbeiter repräsentieren, die Blue-Collar-People und die Underdogs.«

Auch die schwarzen Handschuhe gehörten zu der Inszenierung. Carlos reckte die linke Faust, Smith die rechte. Die New York Times wollte auch darin eine Botschaft erkennen: »Der rechte und der linke Handschuh repräsentieren die schwarze Einheit.« Tommie Smith hingegen erklärte es etwas prosaischer: »Meine Frau war vormittags in der Stadt gewesen und hatte die Handschuhe gekauft, aber nur ein Paar. Als ich dann gewonnen hatte, nahm ich den rechten und John den linken. Wir teilten uns die Handschuhe.«

 

Das »Olympic Project for Human Rights« organisierte die Sportlerproteste

Doch es wäre falsch, bei den Sportlerprotesten des Jahres 1968 nur Smith und Carlos zu erwähnen. Schon auf dem berühmten Foto der Siegerehrung ist ein dritter Mann zu sehen, der Silbermedaillengewinner Peter Norman aus Australien. Er hatte sich den gleichen Button angesteckt, den auch Smith und Carlos trugen. »Olympic Project for Human Rights« steht darauf, abgekürzt OPHR. Das war der Name der Bewegung, die die Sportlerproteste organisierte.

John Carlos hatte den Reißverschluss seiner Trainings­jacke nicht zugezogen. »Damit wollte ich die Schichtarbeiter repräsentieren, die Blue-Collar-People und die Underdogs«, so der ehemalige Athlet.

Norman, ein Weißer, hatte in der Sammelstelle, wo die Sportler warteten, bis sie zur Siegerehrung gerufen wurden, mitbekommen, dass seine zwei Kollegen etwas planten. »Kann ich euch helfen?« hatte er gefragt. Smith und Carlos verwiesen auf den OPHR-Button, hatten jedoch keinen weiteren dabei. »Aber Carlos sagte meinem Onkel, dass er noch Zeit habe, um rauszugehen und sich einen zu holen«, berichtet Matt Norman, ein Neffe des Sprinters, der 2008 einen Film namens »Salute« über seinen auch in Australien vergessenen Onkel gedreht hat. Von Peter Norman soll übrigens auch die Anregung stammen, das Handschuhpaar aufzuteilen: einer links, einer rechts. Norman jedenfalls ging vor der Siegerehrung nochmal hinaus und traf draußen den Ruderer Paul Hoffman, einen der wenigen weißen US-Amerikaner, die die Forderungen des OPHR unterstützten. Dieser schenkte ihm einen Button.

Smith und Carlos wurden nach ihrem Auftritt sofort von der US-Mannschaftsleitung suspendiert. Sie waren jedoch nur die prominentesten Gesichter einer sozialen Bewegung. »Auch 400-Meter-Läufer, die ebenfalls protestiert hatten, wurden nach Hause geschickt«, so Smith. Der spätere 400-Meter-Olympiasieger Lee Evans, ein Gründungsmitglied von OPHR, hatte aus Solidarität mit den suspendierten Smith und Carlos zunächst auf seinen Finalstart verzichten wollen, wurde aber von Smith überredet. Sowohl die drei Medaillengewinner im Einzelrennen – außer Evans noch Larry James und Ron Freeman – als auch die 4-mal-400-Meter-Staffel, der noch Vince Matthews angehörte, hatten sich für einen Protestakt entschieden: Alle trugen zur Siegerehrung schwarze Barette, ein Symbol der Black-Panther-Bewegung, und zeigten die geballte Faust, als sie das Stadion verließen. Ralph Boston, Dritter im Weitsprung und bis zu den Spielen noch Weltrekordhalter, ging ohne Schuhe zur Siegerehrung, um ein Zeichen zu setzen.

Eine andere Form, Solidarität zu zeigen, hatte sich die 4-mal-100-Meter-Staffel der Frauen überlegt, die mit Margaret Bailes, Barbara Ferrell, Mildrette Netter und Einzelolympiasiegerin Wyomia Tyus Weltrekord gelaufen war. »US-Frauen widmen ihren Sieg Smith und Carlos«, schrieb die New York Times ein paar Tage später, doch die Sprinterinnen wurden nicht disziplinarisch belangt.

 

Die Forderungen kamen aus dem Sport und waren zugleich politisch

Es war eine breite Protestbewegung, die sich als OPHR im Team der USA formiert hatte. Hervorgegangen war sie aus einer landesweit geführten Diskussion, ob die Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt boykottiert werden sollten. »Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für schwarze Menschen, um aufzustehen, um zurückzuweisen, dass wir wie Tiere für eine kleine Extraportion Hundefutter vorgeführt werden?« hatte der Sportsoziologe Harry Edwards im November 1967 gefragt und so die Bewegung initiiert. Auch Martin Luther King unterstützte die Sportlerproteste. Die Forderungen des OPHR kamen aus dem Sport und waren zugleich politisch: Avery Brundage, der IOC-Präsident aus den USA, solle zurücktreten, lautete eine Forderung. Die Sportler nannten den rassistischen und antisemitischen Funktionär meist nur »Avery Slavery« oder »Avery Bondage«. Der 400-Meter-Läufer Lee Evans erzählte später einmal, Smith und Carlos hätten sich die Handschuhe auch besorgt, um im Falle einer Gratulation nicht Brundages Haut berühren zu müssen.

Eine weitere Forderung des OPHR war es, auch das Apartheidregime von Rhodesien, das heutige Zimbabwe, von den Olympischen Spielen auszuschließen. Südafrika war seit 1964 nicht mehr dabei, Rhodesien jedoch war in Mexiko noch vertreten – erst 1972 waren die Proteste erfolgreich. Weitere Forderungen lauteten, dass der wegen seiner Kriegsdienstverweigerung suspendierte und verurteilte Profiboxer Muhammad Ali seinen Titel als Schwergewichtsweltmeister zurückerhalten solle und dass afroamerikanische Trainer, denen die Sportler vertrauten, zu den Spielen reisen dürften.

Nachdem am 4. April 1968 Martin Luther King erschossen worden war, erklärten sich 63 Athleten zum Olympiaboykott bereit. Brundage erwiderte kaltschnäuzig, niemand würde die schwarzen Sportler vermissen. Harry Edwards blies den geplanten Boykott ab, weil seiner Einschätzung nach nicht genügend Sportler fernbleiben wollten. Dennoch nahm etwa das US-Basketballteam nicht teil, dessen Qualifikationsspiele auf Terminen lagen, als ein Boykott noch wahrscheinlich schien. So kam es, dass Lew Alcindor, der unter seinem muslimischen Namen Kareem Abdul-Jabbar einer der besten NBA-Profis aller Zeiten werden sollte, zu den wenigen US-amerikanischen Olympiaboykotteuren gehörte.

Doch die meisten Sportler wollten die Spiele wenigstens als Bühne ihres Protests nutzen – zumal sich zehn Tage vor Eröffnung das Massaker auf dem Platz der drei Kulturen in Mexiko-Stadt ereignete: Schätzungsweise 300 bis 400 demonstrierende Studenten wurden von der Polizei zu Tode geprügelt oder erschossen. Auch das empörte viele Sportler.

 

Der Protest hatte Folgen

Vier Jahre später, bei den Olympischen Spielen 1972 in München, sorgten der Erste und der Zweite im 400-Meter-Lauf, Vince Matthews und Wayne Collett, für einen Eklat bei der Siegerehrung. Während der Hymne standen sie nebeneinander barfuß auf dem Treppchen, unterhielten sich, lachten herzlich und ignorierten demonstrativ Hymne und Flagge. Collett sagte später, er habe den Text von »Star Spangled Banner« nicht mitsingen wollen, »weil ich nicht glaube, dass er wahr ist«. Eine dezidiert politische Geste sollte das nicht sein, es wurde aber so gedeutet. »Wenn die Leute unser Gespräch auf dem Treppchen Protest nennen, dann können sie sich auch ›Alice im Wunderland‹ anschauen und es für Pornographie halten«, sagte Matthews später. Beide Sportler wurden vom IOC lebenslang gesperrt. Dessen Präsident Brundage sprach von einer »ekelhaften Darbietung« von Collett und Matthews.

Das war am 7. September 1972, und es war derselbe Brundage, der am Tag zuvor, am 6. September, auf der Trauerfeier für die bei einem Terroranschlag getöteten israelischen Sportler den Satz »The games must go on« gesprochen hatte, der hierzulande bis heute wie ein moralischer Imperativ verstanden wird. Doch ausgerechnet in jener Trauerrede leistete sich Brundage, der seine letzten Arbeitstage als IOC-Präsident absolvierte, einen besonderen Ausfall gegen die amerikanischen Sportler und gegen die afrikanischen Olympiateilnehmer, die 1971 den Ausschluss Rhodesiens von den Münchner Spielen erreicht hatten. »Die Spiele der XX. Olympiade waren zwei grausamen Attacken ausgesetzt«, sagte er da und setzte die antirassistischen Forderungen mit dem palästinensischen Mordanschlag gleich: »Wir haben die rhodesische Schlacht durch nackte politische Erpressung verloren.« Falsch kann die Forderung der OPHR-Bewegung, »Avery Slavery« solle zurücktreten, also nicht gewesen sein.