Die Aktualität von Johannes Agnolis »Transformation der Demokratie«

Das Unbehagen in der Demokratie

Warum sie von Polizisten verprügelt worden waren, erklärte Johannes Agnoli den protestierenden Studenten mit seiner 1967 erschienenen Schrift »Die Transformation der Demokratie«. Sie hat an Aktualität nicht verloren.

»Keine Freiheit für den, der von ihr Gebrauch macht«, fasste der Publizist Sebastian Haffner 1967 in einer Rezension die angesichts der deutschen Realität bittere Diagnose von Johannes Agnolis »Die Transformation der Demokratie« zusammen. Als der Ça-Ira-Verlag die Schrift 1990 neu herausgab – Agnoli war da gerade 65 Jahre alt geworden und verabschiedete sich aus dem Hochschuldienst –, urteilte die Berliner Schriftstellerin und Philosophin Ilse Bindseil, Agnoli beschreibe einen Staat, »in dem das Befehlen, nicht aber das Gehorchen aufgehört hat«. Haffner und Bindseil bringen ein Unbehagen auf den Punkt, das die Leser bei der Lektüre beschlichen haben muss: Agnoli beschreibt in dem Buch nicht die Grenzen demokratischer ­Politik im Kapitalismus, auch nicht ihren Verfall, vielmehr zeigt er, dass Demokratie und Parlamentarismus selbst das Problem sind.

Die Funktionsbestimmung des bürgerlichen Staats, Sicherung der sozialen Macht der Bürger auch über die Arbeiterklasse, ist von Anfang an klar. Aber gleichzeitig verkörpert der Staat das gesellschaftlich Allgemeine, an dem durch die freie, geheime und gleiche Wahl alle partizipieren können. So bestünde immerhin die Chance, dass die Bevölkerungsmehrheit, und das sind nun mal die Lohnabhängigen, die Barrikade mit dem Wahlzettel vertauschte und die Revolution auf legalem Wege gewönne. Es kommt auf ­diese Weise aber nie zur Revolution. Und das ist das Unheimliche.

Am 2. Juni 1967 wurde auf den Berliner Straßen dieses Unheimliche handgreiflich. In kaltblütiger Bürgerkriegstaktik sprengte die Polizei die Demonstration gegen den Schah-Besuch und verprügelte die desorganisierten Studenten. Der Tod Benno Ohnesorgs erschien als fatale Konsequenz dieser Polizeigewalt.

 

Sozialstaat und Repression, Wohlstand und 2. Juni

Es folgte die Hetze der Springer-Presse mit dem Feindbild »linker Student«. Illusionen über einen prinzipiell offenen, im Grunde friedfertigen Staat dürften den Demonstranten gründlich ausgetrieben worden sein. Einige Monate danach erschien Agnolis Demokratie- und Parlamentarismusanalyse, ursprünglich zusammen mit einem Essay des marxistischen Sozialpsychologen Peter Brückner: »Die Transfor­mation des demokratischen Bewusstseins«.

Im Gegensatz zu Agnolis lakonischer, mitleidsloser Destruktion des Rechtsstaats liest sich Brückners Aufsatz schwerfällig und ausschweifend psychologisierend; es ist nicht sein bester. Trotzdem spielte er für die Wirkungs­geschichte eine entscheidende Rolle. Brückners Analyse der diffamierenden öffentlichen Reaktionen auf die Protestbewegung machte den Lesern klar, dass das Buch von ihrer Realität handelt. Wer vor dieser Folie Agnolis Text las, dem wurden die Begriffe, die Agnoli lieferte – Involution, Frieden als Unterordnung, Reduktion des Antagonismus auf Pluralismus –, zu Waffen: Der spricht ja zu uns! Die Fundamentalopposition, die Agnoli einfordert, das sind doch wir!

 

Weil der Staat gegen alle Standesprivilegien das Prinzip der Volkssouveränität behauptet, transportiert er Staatsbürgerbewusstsein bis in die unteren Klassen hinein. Politisch darf sich nun auch der Lumpenproletarier als Bürger fühlen – eine enorme Integrationsleistung.

 

Darin liegt die historische Bedeutung des Textes, die ihn auf eine Stufe stellt mit Herbert Marcuses »Der ein­dimensionale Mensch«. Im entscheidenden Moment lieferte jemand die richtigen Begriffe, die helfen, diesen Moment zu verstehen. Sozialstaat und Repression, Wohlstand und die Ereignisse des 2. Juni gehören nach Agnoli zusammen: »Der Anspruch des Staates, zum Schutz des ›Ganzen‹ Disziplinierungs- und Disziplinarmaßnahmen gegen einzelne Volksteile (gegen die abhängigen Massen) zu ergreifen, ergibt sich aus der gleichen Kompetenz, das Geschäft des sozialen Ausgleichs zu besorgen.«

Die »Transformation der Demokratie« erlebte nach 1967 etliche Auflagen, Raubdrucke und Übersetzungen, die letzte Auflage erschien 2004, ein Jahr nach Agnolis Tod. Dabei war der Text nie als Agitationsschrift gedacht, sondern gehörte zunächst zu Agnolis Habilitationsvorhaben. Die Thesen standen bereits 1965 fest. Die in den vergangenen Jahren etwa von Wolfgang Kraushaar geäußerte Kritik, Agnoli lege seiner Parlamentarismuskritik die Demokratieverachtung faschistischer Ideologen zugrunde, denen der junge Agnoli als italienischer Jungfaschist einst anhing, ist nicht stichhaltig. Die Parlamentarismuskritik hat Agnoli als Konsequenz der Transformation der Demokratie beschrieben. Ursprünglich ging es ihm darum, parlamentarismuskritische Thesen von sozialistischen Verfassungstheoretikern wie Ossip K. Flechtheim und Wolfgang Abendroth, zwei wichtigen Mentoren Agnolis, an der Wirklichkeit der Bundesrepublik zu überprüfen. Was er aber dann heraus­arbeitete, war fundamental: »Der politische Staat kann die dem Entscheidungsprozess ferngehaltenen Massen gesellschaftlich am wirksamsten integrieren, damit in die Unterordnung einbauen und sie mit ihrer durchgängigen Abhängigkeit versöhnen, wenn er nicht als Organ der Herrschaft erscheint, sondern als Volkssache.« Wie kann dieses Unternehmen gelingen?

 

Warum bewirkt das allgemeine Wahlrecht nicht den sozialistischen Schub?

Das Parlament – als Verkörperung des gesellschaftlich Allgemeinen – war einst das Kampfinstrument des Bürgertums gegen die Privilegien von Adel und Kirche, die sich ökonomisch und damit auch sozial nicht mehr rechtfertigen ließen. Der neue Verfassungsstaat sollte die bürgerlichen Interessen verteidigen, die identisch waren mit der Durchsetzung und dem Erhalt der sozialen Macht, dem Privateigentum an den Produktionsmitteln. Diese Interessen waren nicht mehr legitimiert durch Abstammung und göttliche Sendung, sondern fußten auf dem Prinzip von Freiheit und Gleichheit. Von dieser Freiheit und Gleichheit war das Proletariat – und die Frauen – ausgeschlossen. Aber nicht prinzipiell, wie die erfolgreichen und militant geführten Kampagnen für das allgemeine Wahlrecht zeigten. Für Sozialisten brach das goldene Zeitalter des Parlamentarismus an, die Revolution per Stimmzettel schien greifbar nahe. Man kann dieses Zeitalter genau datieren: Es reicht von 1871, dem Jahr der Pariser Kommune und ihres grausamen Endes, bis 1905, als in der ersten russischen Revolution die Massen sich autonom in Räten organisierten, was die westeuropäischen Linksradikalen – von Anton Pannekoek bis Rosa Luxemburg – zur endgültigen Abkehr von der parlamentarischen Strategie bewog.

Aber prinzipiell gefragt: Warum bewirkt das allgemeine Wahlrecht, das der funktionellen Abhängigkeit des Staats und seines Parlaments von den Interessen der Bourgeoisie widerspricht, nicht – nie! – den erhofften sozialistischen Schub? Das ist die Frage, die Agnoli umtreibt. Weil der Staat gegen alle Standesprivilegien das Prinzip der Volkssouveränität behauptet, transportiert er Staatsbürgerbewusstsein bis in die unteren Klassen hinein. Politisch darf sich nun auch der Lumpenproletarier als Bürger fühlen – eine enorme Integrationsleistung.

Anstatt, wie von der frühen Sozialdemokratie erhofft, die Klassenmacht des Proletariats zum Ausdruck zu bringen, verkörpere der Staat eine Sphäre, in der die Klassen verschwunden seien, ohne dass der Kapitalismus zu existieren aufgehört habe, so Agnoli: »Die Überwindung des Klassenstaates auf dem Boden einer kapitalistisch bleibenden Gesellschaft bedeutet praktisch, dass die politische Kraft der abhängigen Klasse gebrochen wird – und dass also der Klassenstaat nur den Klassenkampf von oben reproduziert.«

Zwar gibt es für die Bourgeoisie ­keine verfassungsmäßig festgeschriebene politische Garantie ihrer sozialen Macht mehr, aber das erweist sich als ihre größte Sicherheit, denn es entsteht die Fiktion eines eigentlich existierenden Gemeinwohls. Dies führt zur Aushöhlung proletarischer Klassenpolitik im parlamentarischen Pluralismus. Hier führt Agnoli seinen vielleicht bekanntesten Begriff ein, den der Involution (Rückbildung). Heutzutage hat der Staat die Gesellschaft mit einer Unzahl von Bürgerbeteiligungsverfahren und anderen Partizipationsformen überzogen. Überall wird man aufgefordert, mitzubestimmen und sich einzubringen. Selbst der Bundestag erlebt augenblicklich ohne gewählte Regierung in den Augen zahlreicher – auch linker – Kommentatoren sein Comeback als »echtes Parlament«. Was davon zu halten ist, kann man bei Agnoli nachlesen.