Im Tel Aviver Viertel Neve Sha‘anan hetzen einige Anwohner gegen afrikanische Flüchtlinge

Stress im Hinterhof

Reportage Von Marina Klimchuk

Im Tel Aviver Viertel Neve Sha’anan bekämpfen jüdische Einwohner afrikanische Zugewanderte. Die Kommunalpolitik hat den Süden der Stadt jahrzehntelang vernachlässigt.

In der Dunkelheit flimmern bunte Leuchtstäbe. Aus einem improvisierten Partybus, der seine besten Tage längst hinter sich hat, ertönt ohrenbetäubender Lärm, dasselbe Chanukka-Lied in Dauerschleife. Eine Liedzeile blinkt grell auf: »Wir sind hier, um die Dunkelheit zu verjagen!« Die Einwohner von Neve Sha’anan im Süden Tel Avivs feiern Chanukka, das jüdische Lichterfest. Acht Tage lang werden jeden Abend Kerzen angezündet. Für den farbenfrohen Chanukka-Umzug und das anschließende Kerzenzünden soll sich jeder Teilnehmer einen Leuchtstab oder ein Leuchtarmband abholen können. Ältere Frauen tänzeln im Rhythmus, Passanten und Ladenbesitzer filmen die geräuschvolle Parade mit ihren Handys.

Ein halbes Dutzend Polizisten hat sich angeschlossen. Jeden Tag Kerzen auf dem Revier anzuzünden, sei langweilig, der Umzug sei eine Abwechslung. Als zwei schwarze Mädchen sich anschließen und mitlaufen, murmelt eine ältere Frau dem Verteiler der Leuchtstäbe verärgert zu: »Die sind nur für unsere Kinder!« Für sie sind offenbar die falschen Kinder zur Feier gekommen. Die verärgerte Frau ist Sheffi Paz, die prominente Anführerin des Umzugs. Sie ist Mitte 60, Kurzhaarschnitt, eckige Brille. Paz und ihre Anhänger sind in Neve Sha’anan sehr bekannt, beinahe jedes afrikanische Kind kennt sie. Meistens vom Spielplatz, auf dem sie Kinder und Eltern anpöbeln und Wasser auf Rutschen spritzen, damit die Kleinen beim Rutschen nass werden. Mehrere Male war Paz schon in Haft, entmutigt hat sie das nicht. Sie trägt einen schwarzen Pullover, der zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Auf der Rückseite ist in weißroten Buchstaben auf Hebräisch »Befreiungsfront Süd-Tel-Aviv« zu lesen. Einige Stunden später wird Paz auf ihrer Facebook-Seite posten: »Hinter dem Glitzern und den Chanukka-Lichtern steckt ein Schmerz, an dem ich fast ersticke. Dutzende von Einwohnern unseres Viertels laufen unter Polizeischutz wie Zirkustiere durch die Gegend, während Eindringlinge gaffen und uns filmen. Wir sind die Fremden hier. Im Park singen die Kinder von Eindringlingen unsere Chanukka-Lieder und es gibt nichts, das wir dagegen tun können.«

»Viele Menschen und Politiker denken wie Paz: Wenn nur die Flüchtlinge weg sind, wird alles gut.« Inbal Egoz, Antirassistin

Nur wenige Gehminuten vom Chanukka-Umzug in Neve Sha’anan entfernt erstreckt sich der berühmte Rothschild Boulevard. Die Flaniermeile, die eine Vielzahl von Gebäuden im Bau­hausstil säumt, kündet vom romantischen Gründermythos einer weißen Stadt am Meer, erbaut von zionistischen Einwanderern aus Europa. Die Bezeichnung »weiße Stadt« kam auf, weil für die Gebäudefassaden Gips verwendet wurde. Mit jedem Schritt in Richtung Süden verblasst die weiße Farbe, sie verändert sich in ein unattraktives Grau-Beige. Eine unsichtbare Grenze trennt Neve Sha’anan vom modernen Tel Aviv der Start-ups und Hipster. Die Bewohner aus dem verarmten Tel Aviver Süden wurden von der Kommunalpolitik jahrzehntelang vernachlässigt. Die Gegend ist als schäbiger und krimineller Hinterhof Tel Avivs verschrien, viele Israelis verbinden mit dem Viertel mittlerweile Illegalität, Gewalt, Drogen, Andersartigkeit und den Verlust jüdischer Identität. Menschen wie Paz sowie zahlreiche israelische Politiker und Medien behaupten, die aus Eritrea und dem Sudan Zugewanderten, die hier leben, seien keine Flüchtlinge, sondern Arbeitsmigranten und »Eindringlinge« und fordern, sie möglichst bald wieder abzuschieben.

 

Neve Sha’anan

Schaukeln mit Argwohn. Auf dem Spielplatz sind afrikanische Familien oft Anfeindungen ausgesetzt

Bild:
Thaer Dallaesh

 

Gestrandet in Tel Avivs Süden

Als die ersten afrikanischen Migranten ab 2006 irregulär über die südliche Grenze aus Ägypten ins Land kamen, war das israelische Rechtssystem kaum vorbereitet. Nach ihrer Ankunft wurden Neuankömmlinge medizinisch versorgt und im Aufnahmelager in der Wüste Negev registriert. Da der israelische Staat nur für Jüdinnen und Juden ein Einwanderungsland sein will, boten die Behörden den Flüchtlingen keine finan­zielle oder soziale Unter­stützung. Später entwickelte sich die Praxis, ihnen nach der Entlassung ein kostenloses Busticket nach Süd-Tel-Aviv auszustellen. Dann waren sie auf sich allein gestellt. Zahlreiche Flüchtlinge waren gezwungen, wochen- oder monatelang auf Pappkartons in Parkanlagen zu übernachten, bis sie eine Anstellung und eine Bleibe gefunden hatten. Zehntausende afrikanische Migranten siedelten sich in den südlichen Vierteln von Tel Aviv an.

Die meisten von ihnen kamen zwischen 2010 und 2012 ins Land. Als die Einwanderung nicht anhielt, begann die rechte Regierung aus Angst vor einem Verlust jüdischer Identität im Land drastische Maßnahmen zu ergreifen. Ein Zaun wurde an der Grenze zu Ägypten errichtet. Inbal Egoz, eine Organisatorin der Gruppe »Power to the Community« in Neve Sha’anan, erinnert sich an diese Zeit vor sechs Jahren, als es im Viertel ständig zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen den jüdischen Einwohnern und den Neuankömmlingen kam: »Wir haben uns damals als Nachbarschaft versammelt und überlegt, was getan werden kann und woher diese Gewalt eigentlich kommt. Das war doch kein Zufall, dass die Flüchtlinge in Süd-Tel-Aviv gestrandet sind, das sowieso schon eine arme Gegend ist, mit Drogenhandel und Prostitution. Viele Menschen und Politiker denken wie Paz: Wenn nur die Flüchtlinge weg sind, wird alles gut. Das ist absurd und kurzsichtig. Neve Sha’anan braucht echte politische Lösungen, für alle Gruppen und vor allem auch für die Drogenabhängigen hier. Stattdessen wird es gentrifiziert.«

Egoz selbst ist durch ihre Familie stark an diese Gegend gebunden. Ihre Eltern wuchsen als Kinder jüdischer Einwanderer aus dem Jemen beziehungsweise aus Aserbaidschan in diesem Stadtteil auf. Zum Studium zog Egoz wegen der niedrigen Mietpreise nach Neve Sha’anan. Heute ist die 26jährige mit einem Sudanesen liiert. Gemeinsam setzen sie sich für ein ­Israel ein, das für alle die gleichen Rechte vorsieht. Auch bei »Power to the Community« werden an diesem Tag Chanukka-Kerzen angezündet. Gekommen sind ältere Bewohner des Viertels, junge Israelis und afrikanische Flüchtlinge; insgesamt kaum mehr als 20 Personen. »Alle sind so entmutigt von der politischen Situation und der ständigen Angst vor Abschiebungen, dass man kaum noch die Kraft hat, weiterzukämpfen«, erzählt Egoz.

Noch bevor die Kerzenzeremonie beginnen kann, tauchen draußen vor der Tür unerwartet Sheffi Paz und eine kleine Gruppe ihrer Mitstreiter auf. Sie grölen rechte Parolen. Zweimal fliegt etwas gegen das Fenster. Zuerst überlegt Egoz, die Polizei zu rufen, lässt es dann aber. »Die stecken doch sowieso unter einer Decke mit Paz, die haben eine gemeinsame Whatsapp-Gruppe«, meint ein Teilnehmer der Zeremonie. »Von den Polizisten können wir keine Hilfe erwarten«. Trotz des bitteren Auftakts wird es doch noch ein harmonisches Fest, mit sudanesischer Musik, Geschichten zu Chanukka und Erzählungen vom eritreischen Weihnachtsfest.

Anwesend ist auch Teklit Michael aus Eritrea, der seit 2007 in Israel lebt. Michael ist weder als Flüchtling anerkannt noch wurde sein Fall von den Behörden geprüft. Angst vor einer Abschiebung hat er trotzdem nicht, denn er kennt sein Recht auf Asyl als Deserteur der eritreischen Armee. Obwohl Israel die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 nicht nur unterschrieben, sondern auch mitentworfen hat, wird sie heutzutage nicht immer umgesetzt. »Der Hass auf Flüchtlinge hat mit jedem Jahr, das ich in Israel bin, zugenommen«, sagt Michael. »Meine Freunde hier sind entweder linke Israelis oder internationale Leute. Aber die Situa­tion in Neve Sha’anan ist gleichzeitig besser geworden. Früher hatte ich ­wegen der Kriminalität Angst, mich in der Nacht hier zu bewegen. Heute muss niemand Angst haben, es passiert viel weniger.«

 

Von Abschiebung bedroht

Freundschaftliche Zusammenkünfte wie dieses Kerzenanzünden sind keine Selbstverständlichkeit im Viertel. Trotz räumlicher Enge ist Neve Scha’anan ein sozial stark fragmentierter Raum, der die Absorption von Israels zahlreichen Migrationsbewegungen widerspiegelt. Obwohl im Zuge der steigenden Mietpreise in den vergangenen fünf Jahren immer mehr Studierende und Familien aus der Mittelschicht in die südlichen Viertel zogen, ist der Stadtteil noch sehr heterogen. Mit Beginn der ersten Intifada 1987 begannen nach und nach in ganz Israel Arbeitsmigranten aus Westafrika, Osteuropa und Asien palästinensische Tagelöhner zu ersetzen. Angezogen von billigen Mietpreisen siedelten sich in den neunziger Jahren Tausende von ihnen in Süd-Tel-Aviv an. Die Gegend begann, sich kulturell zu verändern. Beinahe zur gleichen Zeit kamen jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion hinzu. Die meisten von ihnen verließen die Gegend jedoch, sobald sie es sich leisten konnten. Der Rest blieb im verarmten Süden der Stadt, der nach und nach von afrikanischen Flüchtlingen besiedelt wurde.

 

Tel Aviv Neve Sha’anan 2

Leben im Hinterhof. Straßenszene in Neve Sha’anan

Bild:
Marina Klimchuk

 

Die 23jährige Ali kam vor fünf Jahren auf dem Landweg aus Eritrea nach Israel. Heutzutage arbeitet sie als Putzkraft in einem Restaurant und betreibt mit ihrem Mann einen kleinen Textil­laden in Neve Sha’anan. »Meine Tochter ist ein Jahr alt. Ich kann sie nicht zu meiner Arbeit mitnehmen, weil überall benutzte Spritzen auf dem Boden rumliegen. Viele Israelis kommen her und kaufen das Zeug, das hier heimlich herumgereicht wird. Ich sehe immer einen reichen Typen in einem teuren Wagen, der hier einkauft. Aber ich habe keine Wahl, dieser Laden ist alles, was ich besitze. Meine Eltern sind in Eritrea und ich muss ihnen ständig Geld schicken. Mein Bruder und meine Schwester sind nach Libyen und haben von dort aus versucht, nach Europa zu gelangen. Jetzt ist er in Holland und meine Schwester wurde erwischt, zurück nach Eritrea deportiert und verhaftet.«

Zur niedrigen Lebensqualität in Neve Sha’anan kommt die permanente Drohung der Abschiebung in ein afrikanisches Drittland. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat den protestierenden Bewohnern von Süd-Tel-Aviv versprochen, ihnen »ihre Stadt zurückzugeben«. Vergangene Woche hat das Kabinett einem Plan zugestimmt, der vorsieht, Zehntausende afrikanische Flüchtlinge abzuschieben oder zur »freiwillien« Ausreise zu bewegen. Wer dem bis Ende März nachkomme, soll der Immigrationsbehörde zufolge umgerechnet bis zu 2 900 Euro erhalten. Bereits zuvor hatte die israelische Regierung eine Vereinbarung mit Ruanda getroffen haben: Für jeden aufgenommenen Flüchtling wird Ruanda mit 5 000 US-Dollar belohnt. Die Alternative zur Ausreise ist, bis auf Weiteres in ­Israel eingesperrt zu werden. Frauen, Kinder sowie Folteropfer bleiben von diesem Verfahren vorerst verschont. Teklit Michael sieht die Situation nüchtern. »Ich denke, sie werden die Abschiebungen dieses Mal tatsächlich durchsetzen, immerhin versuchen sie das schon so lange. Ich werde das im Gefängnis hier aussitzen. Das ist für mich die sicherste Variante, denn in ­Afrika weißt du nie, was passieren kann.«

 

 Tel Aviv Neve Sha’anan 3

Exklusiver Chanukka-Umzug. Sheffi Paz (im blauen T-Shirt) und ihre Mitstreiter hetzen gegen afrikanische Flüchtlinge

Bild:
Leah Platkin

 

Dennoch begehrt

Bisher war die gängige Praxis der Regierung eine andere: Viele Afrikaner wurden unter dem Druck der Regierung vor die Wahl gestellt, entweder in das offene Männergefängnis Holot, abgelegen in der Wüste, oder zurück nach ­Afrika zu gehen. Holot gilt als offen, weil die Männer zwar dort übernachten müssen und nicht arbeiten dürfen, tagsüber aber »frei« sind. Viele beugten sich dem Druck und suchten in Ländern wie Uganda oder Ruanda Zuflucht oder wagten den gefährlichen Weg über Libyen nach Europa. Einige wenige schafften es in westliche Länder. 2012 sprachen offizielle Statistiken von über 60 000 Eritreern und Sudanesen im Land. Das entspricht einem Anteil von circa 0,5 Prozent der israelischen Be­völkerung. 2017 waren es weniger als 40 000. Im Zuge der Abschiebungen soll Holot endgültig geschlossen werden.

»Der Hass auf Flüchtlinge hat mit jedem Jahr, das ich in Israel bin, zugenommen.« Teklit Michael, Flüchtling aus Eritrea

Experten bewerten dieses Vorgehen der Regierung als extrem problematisch. Galia Sabar, Professorin für Afrikanistik und Migrationsforschung an der Universität Tel Aviv, erforschte die Lebenswege sogenannter »freiwilliger« Rückkehrer. Beinahe keiner von ihnen ist in Ruanda geblieben, um sich eine Existenz aufzubauen. Für die meisten war es nur eine Durchgangsstation auf einer riskanten Reise ins Ungewisse. »Israel ist an die UN-Flüchtlingskonvention gebunden und kann die Menschen nicht in ihre Herkunftsländer zurückschicken. Aber man nimmt an, man kann jeden Afrikaner einfach in ein afrika­nisches Land schicken. Dabei hat die Person dort keine Arbeit, kennt die Sprache nicht, hat kein soziales Auffangnetz oder ist in irgendeiner Weise willkommen«, äußerte sie sich vor kurzem gegenüber der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth.

»Uns und die Menschen in Neve Sha’anan, die uns hassen, verbindet in Wirklichkeit ein Feind. Das ist die Regierung, die für Gefängnisse und Abschiebungen Millionen ausgibt. Wenn der Regierung die jüdischen Bewohner wirklich am Herzen liegen würden, würde sie konstruktive Lösungen finden«, sagt Michael. In den vergangenen fünf Jahren sind die Mietpreise in Tel Aviv um 30 Prozent gestiegen. Sich eine Wohnung im Stadtzentrum oder im Norden der Stadt zu leisten, ist für viele utopisch. Mit dem Zuzug von neuen Bevölkerungsgruppen in den Süden der Stadt entstanden hier urbane Gartenprojekte und Koexistenz-Initiativen, es eröffneten Cafés mit linkspolitischer Orientierung. Aber in jüngster Zeit zieht selbst ein sozialer Brennpunkt wie Neve Sha’anan Immobilieninvestoren an. Überall werden moderne Wohngebäude und Wolkenkratzer gebaut. »In fünf Jahren wird das hier eine richtig gute Gegend sein«, ist Michael überzeugt. »Aber die Leute in Neve Sha’anan, die heute gegen Flüchtlinge auf die Straße gehen, verstehen nicht, dass hier kein Platz mehr für sie sein wird. Weil arme Leute nicht erwünscht sind, Israelis genauso wenig wie Flüchtlinge.«