Eklat um die Schach-WM in Saudi-Arabien

Schachmatt für Anna Muzychuk

Die Weltranglistenzweite ist nicht zur Schachweltmeisterschaft nach Riad gefahren. Frauenrechte sind ihr wichtiger als Preisgelder.

Kronprinz Mohammed bin Salman von Saudi-Arabien hat Talent dafür, Bilder zu produzieren. Er selbst, 32 Jahre jung, jugendliches Gesicht, zeigt sich auf Fotos mit breitem Lächeln, als charmanter, anpackender Jungspund mit einer an Obama erinnernden Vorliebe für das Wort »Wandel«. Eine US-amerikanische PR-Agentur hilft Kronprinz Mohammed bei der Produktion solcher ­Bilder – Fotos vom Dauerkrieg im Jemen oder der Verhaftung innen­politischer Gegner gehören natürlich nicht in diese Inszenierung. Lieber verbreitet man solche Bilder wie vergangene Woche von der Schachweltmeisterschaft in Riad: Frauen, die ohne Hijab oder Abaya im saudischen Königreich Schach spielen. Schach – das Spiel, das Anfang 2016 der saudische Großmufti Abd al-Aziz al-Sheikh für unislamisch erklärte. Und Frauen. Ohne Schleier. West­liche Presseorgane ­erkennen das als die politische Inszenierung, die es natürlich ist. Und sind dann ein bisschen ratlos angesichts der Bedeutung: echte Veränderung bei den Saudis? Über das Königreich differenziert zu berichten, ist mühsam. Also diskutierte man lieber über etwas, das sich praktischerweise anbot – den Mut einer Einzelperson.

Anna Muzychuk hat ein Gespür für den effektvollen Auftritt, das fast an das von Kronprinz Mohammed heranreicht. Muzychuk, derzeit Weltranglistenzweite der Frauen sowie bis vor kurzem Weltmeisterin im Schnellschach und Blitzschach, wandte sich an die Öffentlichkeit da, wo man Resonanz erwarten kann: auf Facebook. Kurz vor dem WM-Auftakt schrieb sie: »In ein paar Tagen werde ich zwei Weltmeistertitel verlieren – einen nach dem anderen. Nur, weil ich mich entschieden habe, nicht nach Saudi-Arabien zu fahren. Nicht nach irgendjemandes Regeln zu spielen, keine Abaya zu tragen, nicht nur in Begleitung nach draußen zu gehen, mich nicht als Kreatur zweiter Klasse zu fühlen.« Bei einer Fußball-WM oder Olympischen Spielen mit all den stromlinienförmigen Stars wäre eine solche Rebellion fast unvorstellbar; im Schach aber gibt es Menschen, die für Frauenrechte auf sechsstellige Beträge verzichten. Das ist bemerkenswert.

Ihre Schwester Mariya, Weltranglistensechste, boykottiert das Turnier ebenfalls, trotz der enorm hohen Preisgelder von insgesamt zwei Millionen US-Dollar. Die Muzychuks ­stehen damit nicht allein, sind aber die prominentesten Nichtantreter. Anna Muzychuk ist jetzt berühmter, als ein neuer WM-Titel sie hätte ­machen können. Und weil einzelne Heldengeschichten im Westen oft besser funktionieren als Hintergründe, fragten wenige, was das für Saudi-Arabien bedeutet.

Es ist eine Überraschung, dass eine Schach-WM in Saudi-Arabien stattfindet. Nicht so sehr aus politischen Gründen: Wie bei den meisten internationalen Sportverbänden reicht es auch beim Weltschachverband Fide, zahlungskräftig zu sein, um sich eine Austragung zu sichern. Die saudischen Rekordpreisgelder sorgten dafür, dass trotz des Ausschlusses ­israelischer Schachspieler und der Diskriminierung katarischer und iranischer Schachspieler in Riad gespielt wird. Überraschend ist das eher, weil der einheimische Klerus, der auch schon mal erklärt, Frauen hätten nur ein Viertel des männlichen Gehirns, Schach nicht gerade schätzt. Das Turnier ist für Mohammed bin Salman eine politische ­Geste im doppelten Sinne: Es soll das Image des Landes im Ausland verbessern und Distanz zum rigiden Klerus signalisieren.

»Schach ist in Saudi-Arabien nicht wirklich populär«, sagt Sebastian Sons, Saudi-Arabien-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. »Es wird eher als politisches Instrument genutzt. Saudi-Arabien will der Welt zeigen, dass man sich öffnet, dass man bereit ist, sportliche Events an Land zu ziehen. Gegen die Gigantomanie einer Fußball-WM verwehren sich die Herrscher, aber auf kleinerer Ebene ist es interessant.« Zum einen als Machtdemonstration gegenüber dem großen Rivalen Iran, wo Schach enorm populär ist. Zum anderen als Mittel innenpolitischer Veränderung. »Schach ist eine ­Option, die nicht wirklich gefährlich ist, weil keine Massen ins Land kommen. Aber man lädt andere Kulturen ein, es passt gut zum Modernisierungskurs.«
Viel war zuletzt vom Wandel des Königreichs unter Kronprinz ­Mohammad die Rede.

 

Ein Wandel, der von oben verordnet ist

 

Die Abhängigkeit vom Öl, die mit dem Reform­programm »Vision 2030« verringert werden soll, wird man ganz ohne Frauen nicht los. Nicht nur das Fahrverbot ist zuletzt gefallen; Frauen dürfen mittlerweile auch Sportunterricht erhalten, ohne Erlaubnis eines Mannes eine Arbeit annehmen oder ein Konto eröffnen und ins Stadion gehen. So neu, wie viele behaupten, ist diese Entwicklung nicht. »Saudi-Arabien wandelt sich nicht erst unter bin Salman, sondern schon seit zehn, 15 Jahren«, sagt Sons. »Es wird nur jetzt sehr viel aggressiver verkauft.« Er hält die Modernisierungsabsichten des Kronprinzen für ­ehrlich – und riskant. »Man darf die Menschen nicht überfordern. Bin Salman versucht, innerhalb kürzester Zeit die ganze Mentalität umzuwälzen. Das macht die Attraktivität seiner Politik aus, aber es ist ein Balanceakt: Saudi-Arabien ist sehr traditionell und in Stammesstrukturen ver­wurzelt.«

Im Gegensatz zum Iran, wo es in der Bevölkerung brodelt, ist der Wandel in Saudi-Arabien ein von oben verordnet. Ein Königshaus erzieht sich seine Bevölkerung. Und Mohammed bin Salman erzieht seinen ohnehin geschwächten Klerus. Entsprechend wenig Resonanz gab es auf den Boykott der Muzychuks. Vielleicht, weil schon eine Schach-WM mit Frauen und lockereren Kleidervorschriften Veränderung genug war; vielleicht, weil Schach in Saudi-­Arabien eben kaum jemanden interessiert. Sebastian Sons findet den Boykott dennoch wichtig. »Saudi-Arabien ist ein Land, das auf ausländischen Druck reagiert.« Und er sagt auch: »Ich denke, es ist sinnvoller, als Sportler vor Ort zu sein, um etwas sagen zu können. Ein Land nicht nur aus der Vogelperspektive anzuschauen und zu verurteilen, sondern selbst zu schauen.« Vielleicht hat Anna Muzychuk auch eine Chance verpasst: eine Chance, das Land zu ­erleben und selbst zu lernen – und dann zu kritisieren. Vielleicht ist das aber auch von einer Sportlerin zu viel verlangt.

Wem also nützt der Boykott? Der Protest der Muzychuk-Schwestern wirkt, im Gegensatz zu staatlich gewollten Boykotten, gut: Er dient nicht den schalen politischen Machtspielen von Verbänden, die ihre Spieler unter Druck setzen. Im Interview mit Paris Match betont Muzychuk, sie sei Sportlerin, keine Politikerin. »Das Wichtigste ist mir, dass ich mich frei fühle, wenn ich spiele.« Sie habe gehört, dass die Lage von Frauen in Saudi-Arabien sich bessere. »Ich komme gern, wenn die Frauen dort einen anderen Status haben als heute.« Das könnte sogar Wirkung zeigen: Für 2019 hat sich Saudi-Arabien erneut die Austragung gesichert. Wirkliche Gleichberechtigung kann man bis dahin im Land nicht erwarten; weiteren Wandel wohl schon. Wandel, sagt Kronprinz Mohammed, nicht Revolution. Sich selbst mattsetzen will er ja nicht. Es gibt etwas, was der Kronprinz gar nicht mag – Widerspruch.