Sérgio Lessa von der Zeitschrift »Crítica Marxista« in São Paulo über die politische und ökonomische Krise in Brasilien

»Der Reichtum wurde weiter konzentriert«

Interview Von Anton Landgraf

Ein Gespräch über alltägliche Gewalt, soziale Unterschiede und das, was vom sogenannten brasilianische Wirtschaftswunder übrig geblieben ist.

Ihre Heimatstadt Maceió im nordöstlichen Bundesstaat Alagoas gilt als eine der gefährlichsten Städte Brasiliens. Wie alltäglich ist die Gewalt?
Ich wohne in Maceió in einem gewöhnlichen Apartmentblock. Selbst dieses unspektakuläre Gebäude wird von acht schwerbewaffneten Wächtern und ­einer hohen Mauer gesichert. Hinter dem Block liegt eine Favela, in der es häufig zu Schießereien zwischen Drogengangs kommt. Die Militärpolizei reagiert mit brutaler Härte und setzt schweres Gerät ein. Maceió ist keine außergewöhnlich gefährliche Stadt in Brasilien. Die Gewalt durchdringt einfach alle Bereiche der Gesellschaft.

Gewalt wird immer noch häufig mit der Zeit der Militärdiktatur verbunden.
Während der Militärdiktatur richtete sich die Gewalt vornehmlich gegen die politische Opposition, die sich aus der Mittelschicht rekrutierte. Doch schon damals weitete sich die Gewalt auf ­andere gesellschaftliche Bereiche aus. So wurde in den Fabriken gefoltert, es gab dafür sogar spezielle Räume auf dem Gelände. Heute ist die Folter viel weiter verbreitet als während der Dik­tatur. In jeder Polizeistation kann man Folterinstrumente finden.

Zumindest in den Fabriken wird heute nicht mehr gefoltert.
Mittlerweile existiert diese Praxis natürlich nicht mehr. Es funktioniert ­anders. Wenn ein Arbeiter unzufrieden ist und seine Rechte einklagen will, kann er zwar vor Gericht gehen. Er muss aber damit rechnen, dass er auf dem Nachhauseweg überfallen und verprügelt wird oder dass jemand sein Haus anzündet. Jeder weiß, wie das System der Einschüchterung funktioniert, auch die Polizei.

Brasilien wurde lange vom linken Partido dos Trabalhadores (PT) ­regiert, der viele Sozialprogramme aufgelegt hat. Wieso wuchs die ­Gewalttätigkeit dennoch?
Wir erleben heute eine historisch wohl einmalige Konzentration des Reichtums. Und das liegt paradoxerweise auch an den verschiedenen Sozialprogrammen der PT-Regierungen. Von den Zahlungen profitierten zum Beispiel die großen Lebensmittelunternehmen. Mit den Programmen wurde der Reichtum nicht verteilt, sondern noch weiter konzentriert – die staatlichen Ausgaben wanderten sozusagen über ein paar Umwege in die Taschen einiger weniger Unternehmer.
Die sechs reichsten Menschen im Land haben heute mehr Besitz als 50 Millionen der ärmsten Brasilianerinnen und Brasilianer. Wir haben eine solch hohe Konzentration des Reichtums, dass in der momentanen Wirtschaftskrise keine Mittel mehr für Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur vorhanden sind. Der Alltag in Brasilien ist extrem chaotisch.

Lange Zeit schien die PT-Regierung sehr erfolgreich, Brasilien galt als ein aufstrebendes Schwellenland.
Das sogenannte brasilianische Wirtschaftswunder war nichts als eine Illusion. Es gab einige Jahre lang günstige internationale Rahmenbedingungen, in dieser Zeit lief die Wirtschaft gut. An den grundlegenden Strukturen hat sich jedoch nichts geändert. Der wirtschaftliche und soziale Absturz, den wir gerade erleben, ereignet sich aber nicht nur in Brasilien, sondern auch in Uruguay, Venezuela und anderen südamerikanischen Ländern.

Was genau ist schiefgelaufen?
Brasilien galt in den vergangenen Jahrzehnten als ein wunderbarer Ort für ausländische Investitionen: Es gab enorme Rohstoffvorkommen, kaum Streiks und eine entgegenkommende politische Klasse. Die hohen Investitionen führten zu einem Modernisierungsschub, unter anderem im Finanzsektor und in der Agrarindustrie. ­Dadurch wurde das Wachstum enorm angetrieben. Die Investitionen zogen zahlreiche Infrastrukturprojekte nach sich. Darüber entschieden wiederum Bürokraten und Politiker, die sich ihre Entscheidungen gut bezahlen ließen. Eine neue Straße kostete deshalb 30 oder 40 Prozent mehr als notwendig. Aber solange das Geld floss, war das kein Problem.

Die Schwierigkeiten begannen mit der Finanzkrise von 2007, als die Rohstoffpreise fielen und die Investitionen zurückgingen. Die politische Klasse funktionierte jedoch weiterhin über die Korruption. So sprach Präsident Michel Temer im vergangenen Jahr öffentlich im Parlament über Milliardenzahlungen an Politiker, um sich deren Stimmen zu sichern. Gleichzeitig werden Sozialprogramme gestrichen und es fehlt Geld selbst für grundlegende staatliche Aufgaben.

 

Wie geht es weiter?

 

In Rio de Janeiro ist die Gewalt in den vergangenen Monaten besonders eskaliert. Dabei galt die Stadt noch vor kurzem als eine Art Schaufenster des modernen Brasiliens.
Vor den Olympischen Spielen wurde versprochen, dass alle Bewohner von den immensen Ausgaben für die Infrastruktur profitieren würden. Tatsächlich hat nur die Korruption ein histo­risches Ausmaß angenommen. An den sozialen Widersprüchen hat sich nichts geändert, nur die Kluft ist noch größer geworden.

Die Regierung schickt mittlerweile die Armee auf die Straßen von Rio de Janeiro.
Es ist keine Frage der Polizeitaktik, sondern ein generelles gesellschaftliches Problem. Die Drogen sind nur ein Symp­tom dafür. Wir erleben derzeit die größte Wirtschaftskrise seit über drei Jahrzehnten. Die Arbeitslosenrate liegt vermutlich bei über 20 Prozent. Was sollen diese Leute machen ohne jede Aussicht auf einen Arbeitsplatz in den nächsten Jahren? Wenn die Menschen keine Arbeit und keine Perspektive mehr haben, dann bietet der Drogenhandel die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Wenn man im Knast landet, zahlen die Drogenbosse den Angehörigen eine monatliche Rente – das ist besser als alles, was der Staat zu bieten hat.

Ist es nicht paradox, dass in Rio de Janeiro mit Marcelo Crivella ein Bürgermeister gewählt wurde, der das korrupte System repräsentiert, und nicht ein linker Gegenkandidat?
Warum sollen die Leute einen linken Kandidaten wählen, der keine Chance hat, tatsächlich etwas zu verändern? Die linken Parteien wollen das System reformieren und besser verwalten, aber das ist nicht glaubwürdig.

Und was ist glaubwürdig?
Ein evangelikaler Politiker wie Crivella: Er verspricht, das System zu kontrollieren, weil angeblich Gott auf seiner Seite ist und weil er über die richtigen Beziehungen verfügt. Die Leute wählen jene, die über die Macht und über den Zugang zu den Reichen verfügen, in der Hoffnung, dass für sie auch noch etwas abfällt. Dabei geht es weniger um Ideologie. Wenn die Stadtverwaltung von Rio die Löhne der öffentlichen Angestellten nicht bezahlt, machen viele Leute, die zuvor für einen rechten Politiker gestimmt haben, bei den Streiks und Protestaktionen der Linken mit.

Wie kann die Linke darauf reagieren?
Die Linke versucht sich wieder zu organisieren. Es gibt einige interessante Ansätze, wie wir sie vielleicht seit dem Ende der Diktatur nicht mehr gesehen haben. Aber insgesamt ist die Linke schwach und verfügt über wenig Einfluss.

Wie soll das weitergehen?
Ich sehe zwei Möglichkeiten, beide sind schlecht. Die Menschen sind so unglücklich und so wütend in ihrem Alltag, dass eine soziale Explosion möglich ist. Man darf sich darunter nicht einen linken Aufstand oder eine Art Revolution vorstellen, sondern eher ein sehr gewaltsames und tragisches Ereignis. Das ist wirklich beängstigend. Der Staat bereitet sich jedenfalls auf eine solche Entwicklung vor und rüstet auf.

Was wäre die zweite Option?
Die derzeitige Entwicklung könnte noch einige Jahre weitergehen. Ich weiß nicht, was dann geschieht, weil die gesellschaftlichen Strukturen am Zusammenbrechen sind. Die sozialen Bindungen, die die brasilianische ­Gesellschaft zusammenhalten, lösen sich in einer erschreckenden Geschwindigkeit auf. Irgendwann werden sich dann alle nur noch bewaffnet aus dem Haus trauen. Es fällt wirklich sehr schwer, sich vorzustellen, wie die Si­tuation besser werden könnte.