Die neue Große Koalition setzt auf mehr »Heimat« und weniger Zuwanderung

Regieren mit dem Masterplan

Weniger Zuwanderung, mehr »Heimat« – unter dieser Prämisse nimmt die neue Regierung ihre Arbeit auf. Der Austausch des Außenministers deutet auf mehr als eine kleine Abwechslung hin.

Als Angela Merkel im September 2005 erstmals die Bundestagswahl gewann, gab es in Deutschland weder Myspace noch StudiVZ, »Durch den Monsun« von Tokio Hotel war auf dem ersten Platz der deutschen Single-Charts. Kurz darauf wurde »Bundeskanzlerin« zum Wort des Jahres gewählt. Wer im September 2017 zum ersten Mal wählen durfte, wird sich hingegen wahrscheinlich kaum noch daran erinnern, dass auch einmal ein Mann Bundeskanzler war. Auch diese Jungwähler sind mittlerweile Zeitzeugen eines historisch außergewöhnlichen Vorgangs geworden: Am 14. März endete die längste Regierungsbildung in der Geschichte der Bundesrepublik, Merkel wurde vom Bundestag zum vierten Mal zur Kanzlerin gewählt. Zum dritten Mal stützt sie sich auf eine Große Koalition aus den Unionsparteien und der SPD.

Dass diese Kontinuität kein Zeichen reibungslosen Regierens ist, dürfte jeder Beobachter anerkennen. Zum ersten Problem der neuen Regierung könnte die Debatte über den Paragraphen 219a werden, der »Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft« unter Strafe stellt. Als »Werbung« kann bereits die Verbreitung sachlicher Informationen zu verschiedenen Abbruchsverfahren auf der Homepage einer Arztpraxis gelten, wie die im November 2017 verhängte Geldstrafe gegen die Gießener Ärztin Kristina Hänel zeigte.

Die SPD-Bundestagsfraktion hatte nach dem Urteil einen Antrag erarbeitet, in dem sie vorsah, den entsprechenden Paragraphen zu streichen. Die Union will allerdings an diesem festhalten, die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer und der neue Gesundheitsminister Jens Spahn (ebenfalls CDU) gelten als Scharfmacher in der Debatte. Es werde »manchmal gar nicht mehr berücksichtigt, dass es um ungeborenes menschliches Leben geht«, sagte ­Spahn beispielsweise der Bild am Sonntag – als lebe in den ersten Schwangerschaftswochen bereits ein Kind. Einen Tag vor der Wahl der Kanzlerin im Bundestag knickte die SPD ein und stimmte einem Kompromiss zu: Die neue Justizministerin Katarina Barley (SPD) soll eine Neuregelung des Werbeverbots erarbeiten, dieses jedoch nicht streichen – sehr zum Ärger der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen, die sich enttäuscht von der Parteiführung zeigte. Diese hatte in den vergangenen Wochen schließlich immer wieder versprochen, in der neuen Großen Koalition eine eigenständige Politik zu vertreten, um sich gegen den Koalitionspartner zu profilieren.

 

Von 209 neuen Stellen in den Bundesministerien sind alleine 98 für »heimatbezogene Innenpolitik« vorgesehen.

 

Auch der neue Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) muss sich bereits in den ersten Amtstagen mit Kritik aus den eigenen Reihen beschäftigen. Zwölf neue Abgeordnete stellen sich mit dem Thesenpapier »Linke Volkspartei im 21. Jahrhundert« offen gegen seine Pläne eines ausgeglichenen Haushalts. »Die schwarze Null ist kein finanzpolitisches Programm und kein eigenständiges Ziel«, heißt es in dem Dokument, die Partei wird zu einem grundlegenden Politikwechsel aufgefordert. »In den letzten Jahren hat eine Politik des Kaputtsparens und der Abschottung die europäische Idee schwer beschädigt«, schreiben die Abgeordneten. Bei der Steuerpolitik hat sich im Koalitionsvertrag jedoch eher die Union durchgesetzt, die SPD ist mit dem Vorschlag nach höheren Abgaben für Großverdiener gescheitert.

Die größten Unterschiede zum Koalitionsvertrag von 2013 sind bei den Themen Zuwanderung und Flucht zu finden. Im ersten Satz des entsprechenden Kapitels aus dem Jahr 2013 wurde Deutschland ein »weltoffenes Land« genannt, im neuen Vertrag steht an der entsprechenden Stelle lediglich ein Bekenntnis Deutschlands »zu seinen bestehenden rechtlichen und humanitären Verpflichtungen« – eine Selbstverständlichkeit also. Wurde Zuwanderung 2013 noch als »Chance« beschrieben, soll diese in der neuen Großen Koalition »gesteuert und begrenzt« werden. Einwanderer und ihre Nachkommen tauchten im neuen Vertrag fast nur als Problemgruppe auf, kritisiert deshalb das Netzwerk »Neue deutsche Organisationen«. Es besteht eigenen Angaben zufolge aus Initiativen, deren Mitglieder aus Einwandererfamilien kommen und sich »nicht mehr als Migranten bezeichnen lassen wollen«.

 

 

 

Der neue Ton schlägt sich in neuen Maßnahmen nieder: Alle neuen Asylanträge sollen zukünftig in zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungszentren bearbeitet werden. Algerien, Marokko und Tunesien sollen zu »sicheren Herkunftsstaaten« erklärt werden. Im Bereich der inneren Sicherheit sollen insgesamt 15 000 neue Stellen geschaffen werden. Der neue Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat einen »Masterplan für schnellere Asylverfahren und konsequentere Abschiebungen« angekündigt.

Sein Ministerium wird auch eine neue »Heimatabteilung« erhalten. Dafür soll das Personal kräftig aufgestockt werden: Von 209 neuen Stellen in den Bundesministerien sind alleine 98 für »heimatbezogene Innenpolitik« vorgesehen. Wie Seehofers sicherheitspolitische Vorstellungen aussehen, lässt sich derzeit bereits in Bayern beobachten, wo bis Mai ein neues Polizeigesetz verabschiedet werden soll. Die polizeilichen Befugnisse sollen dort erheblich ausgeweitet werden: Künftig sollen Maßnahmen wie die Überwachung der Telekommunikation, Kontopfändung, elektronische Fußfessel und Aufenthaltsgebote nicht nur gegen »konkrete«, sondern auch gegen »drohende Gefährder« ohne klare Hinweise auf eine bevorstehende Straftat angewendet werden können. Noch hat Seehofer solche Pläne nicht für den Bund angekündigt. Doch bei der Vorstellung seiner ersten innenpolitischen Vorhaben nannte er Bayern als Vorbild für »mehr Sicherheit«.

Auch im Auswärtigen Amt gibt es einen Ministerwechsel: Bundesaußenminister ist mittlerweile der ehemalige Justizminister Heiko Maas. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Sigmar Gabriel spricht er nicht von einer schrittweisen Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Russland; die »andauernde Aggression gegen die Ukraine« könne man nicht hinnehmen, sagte er in seiner Antrittsrede. Zudem kündigte er an, die Beziehungen zu Israel verbessern zu wollen. Auf einer seiner ersten Reisen will er den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu treffen, Medienberichten zufolge haben die beiden Politiker eine Zusammenkunft schon telefonisch vereinbart.

Das sind neue Töne aus dem Außenministerium. Gabriel, zurzeit beliebtester Politiker Deutschlands, hatte im April 2017 die Absage eines Treffens mit Netanyahu provoziert, als er in Israel unbedingt Nichtregierungsorganisationen treffen wollte, die die israelische Armee notorisch als Kriegsverbrecher darstellen. Der SPD-Politiker bezeichnete Israel in der Vergangenheit wiederholt als »Apartheid-Regime«, den Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas hingegen als »seinen Freund«. Nach dem Abschluss des Atomabkommens mit dem Iran besuchte er als erster westlicher Spitzenpolitiker das dortige Regime, das Israel bekanntermaßen überaus feindlich gesinnt ist. Dass Gabriel nur noch einfacher Bundestagsabgeordneter ist und Maas statt seiner das Außenministerium leitet, könnte also mehr als eine kleine Abwechslung sein.