Die PKK zieht sich aus dem Nordirak zurück

Ratlos im Nordirak

Die kurdische PKK hat sich aus der Sinjar-Region im Nordirak zurückgezogen. Die Türkei hatte zuvor Stellungen der Miliz angegriffen und mit einer weiteren Offensive gedroht, sollte die irakische Regierung nicht selbst gegen die PKK vorgehen.

Für seine letzte Rede vor dem Ruhestand hatte sich Necati Şentürk etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Ende März stieg der Gouverneur der türkischen Provinz Kirşehir auf den Balkon seines Rathauses, zückte einen osmanischen Krummsäbel und skandierte vor Hunderten Zuschauern: »So Gott will, nehmen wir bald Afrin ein. Und Manbij.« Seine rhetorischen Eroberungsgelüste beschränkten sich nicht nur auf die zwei kurdischen Städte in Syrien. Weiter brüllte er ins Megaphon: »Und dann gehen wir noch weiter, bis nach Mossul und nach Jerusalem.«

Der Auftritt des Provinzgouverneurs steht für einen neuen Expansionismus in der türkischen Außenpolitik, der von zahlreichen Beobachtern als Neo­osmanismus bezeichnet wird. Nach dieser Lesart ist die jüngste türkische Militäraktion im Norden Syriens nur der erste Schritt einer umfassenden Landnahme an der Südgrenze der Türkei. Erstes Opfer der »osmanischen Schelle« sind die syrischen Kurden; die Kurdische Autonomieregion im Nord­irak solle bald folgen.

Und in der Tat: Kurz nach Verkündung des türkischen Sieges in Afrin nahm der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan schon das nächste Ziel ins Visier. An den Irak gerichtet, sagte er: »Wenn ihr das PKK-Problem nicht lösen könnt, dann kommen wir nachts plötzlich nach Sinjar, ohne vorher Bescheid zu geben.« Das Sinjar-Gebirge liegt etwa 80 Kilometer südlich der türkischen Grenze. Im August 2014 griff der »Islamische Staat« (IS) die dort lebenden Yeziden an. Tausende flüchteten in die Berge und wurden fortan belagert. Die Peshmerga, die kurdischen Kämpfer der nordirakischen Autonomie­region, hatten sich aus dem Gebiet zurückgezogen. Letztlich waren es PKK-Einheiten, die einen Korridor ins Gebirge freikämpften. Seither hatten sich Kämpfer und Kämpferinnen der kurdischen Organisation im Sinjar niedergelassen – geduldet von der irakischen Zentralregierung in Bagdad.

 

Die Politik im Norden des Irak ist von einem komplizierten Geflecht aus machtpolitischen Intrigen bestimmt.

 

Abbas al-Bayati, ein Politiker der irakischen Regierungskoalition, hatte noch Ende März Widerstand gegen einen Einmarsch angekündigt: »Die Türkei darf die territoriale Integrität eines unabhängigen Irak nicht verletzen.« Dennoch zogen sich die PKK-Einheiten Ende März aus dem Sinjar zurück und Übergaben ihre Checkpoints an die lokale Polizei und yezidische Milizen, die selbst der PKK nahestehen sollen. Einem Bericht des Nachrichtenportals al-Monitor zufolge könnten sowohl die USA als auch der Iran hinter dem Abzug der PKK stecken könnten. Offenbar hegten die Regierungen beider Staaten keinen Zweifel an Erdoğans Entschlossenheit, im Irak einzumarschieren. Der türkischen Regierung sollte der Vorwand für eine Invasion genommen und das Entstehen einer zweiten Front vermieden werden.

Der derzeitige Konflikt um die PKK-Präsenz im Sinjar täuscht darüber hinweg, dass die türkische Armee im Nordirak längst Fuß gefasst hat. In Bashiqa, knapp 30 Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums von Mossul, unterhält die Türkei seit 2013 eine Armeebasis, in der nunmehr zwischen 500 und 1 000 Soldaten stationiert sind. Die Region steht unter Kontrolle kurdischer Peshmerga. Ursprünglich sollten die Truppen den Irak beim Kampf um Mossul unterstützen, doch auch nach dem Fall des IS-»Kalifats« blieb die Militärbasis bestehen. Zudem fliegt die türkische Luftwaffe seit fast drei Jahren regelmäßig Luftangriffe auf PKK-Stellungen in den irakischen Kandil-Bergen. Bis zu 650 Dörfer sollen hier unter Kontrolle der Arbeiterpartei stehen. Anfang Februar sollen bei einer Attacke 49 PKK-Kämpfer ums Leben gekommen sein, berichtet die türkische Zeitung Hürriyet. Die letzten tödlichen Luftangriffe fanden in der Nacht auf den 29. März statt. In der ersten Märzwoche rückte die türkische Armee zudem erstmals mit Bodentruppen in die nordirakische Autonomieregion vor. In den Provinzen Dohuk, Erbil und Suleymaniyah sollen mittlerweile dutzende Dörfer unter türkischer Kontrolle stehen.

Alle Aktionen richten sich nach türkischen Angaben gegen die PKK und werden unter dem Operationsnamen »Tigris Shield« zusammengefasst.

Türkische Militärbasen, Luftangriffe auf kurdisches Territorium, Einmarsch von Bodentruppen – der kurdische Albtraum in Syrien gehört im Nordirak seit langem zum Alltag. Die kurdische Regionalregierung duldet die anhaltenden Angriffe auf das eigene Territorium. »Warum sind die türkischen Truppen überhaupt nach Kurdistan gekommen?« fragte der Ministerpräsident der kurdischen Autonomieregion, Nechirvan Barzani, am 28. März. »Der Grund ist die PKK«, gab er sogleich die Antwort. »Es gehört zu den Grundprinzipien der kurdischen Autonomiegebiete, dass unser Land nicht als Basis für Angriffe auf unsere Nachbarländer dienen kann«, sagte der Sohn des langjährigen Präsidenten Massoud Barzani weiter.

Barzani und seine Kurdische Demokratische Partei (KDP) stellen Erdoğan  einen Freibrief aus und wollen sich nicht mit PKK und YPG solidarisieren. »Es ist nunmal so, dass sich die PUK nicht vom Schoß der Mullahs im Iran holen lässt. Und genauso bekommst du die KDP nicht vom Schoß der Türkei. Die PKK ist im Nordirak die einzige Kraft, die nicht ständig mit den Parteien in Erbil (KDP) oder Sulaymaniya (PUK) flirtet«, berichtet Alan* ein junger ein Kurde aus Suleymaniah, der mit den Machtkämpfen vertraut ist, im Gespräch mit der Jungle World.

Es gibt politische und wirtschaftliche Gründe für die irakisch-kurdische Gleichgültigkeit gegenüber der türkischen Aggression. Barzanis KDP hat sich jahrelang um eine Normalisierung der Beziehungen mit  der Türkei bemüht. Die Regionen treiben Handel miteinander, auch mit Erdöl. Das von Barzani initiierte Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 hat das kurdisch-türkische Verhältnis kurzzeitig abgekühlt, abgebrochen wurden die Beziehungen jedoch nie. Die KDP sieht in Erdoğan  zudem einen Verbündeten gegen die irakische Zentralregierung – und gegen die beiden innenpolitischen Rivalen PUK und PKK. Alle drei stehen im Verdacht, Handlanger iranischer Interessen im Irak zu sein. »Die KDP hat sich zunehmend umzingelt gefühlt, nachdem die PKK im Sinjar-Gebirge und den Kandil-Bergen ihre Machtstellung ausgebaut hat«, analysiert Bilal Wahab die Lage im Nordirak für das Washington Institute. »Der Iran hat seine historischen Verbindungen zur PKK reaktiviert, um die kurdische Autonomieregion gegenüber der Zentralregierung in Bagdad zu schwächen.«

Die mächtigste politische Partei im Nordirak sieht in der PKK eine Bedrohung der eigenen Macht – auch weil die PKK in der Bevölkerung zuletzt an Sympathien gewonnen hat. Eine säbelschwingende Türkei kommt der KDP in diesen Tagen nicht ungelegen.

Kaum etwas prägt die Politik in den kurdischen Gebieten des Nordirak stärker als machtpolitisches Kalkül und die Rivalität zwischen KDP, PUK und der PKK. Im Oktober 2017 beispielsweise verbündete sich die PUK mit iranischen Milizen im Irak und brachte so den langjährigen Präsidenten Massoud Barzani zum Rücktritt. Jetzt wiederum gibt die KDP dem türkischen Präsidenten freie Hand bei der Bekämpfung der PKK. »Erdoğan hat keine Angst davor, nach Kurdistan zu kommen. Erst Afrin, dann Shingal, dann die Kandil-Berge, wo die PKK sich schon seit den achtziger Jahren versteckt hält. Das wird alles viel einfacher, denn dort gibt es weder Amerikaner noch Russen, Iraner oder syrische Streitkräfte«, sagt Alan.

Die Politik im Norden des Irak ist von einem komplizierten Geflecht aus persönlichen Animositäten, Großmachtgelüsten, Stellvertreterkriegen und machtpolitischen Intrigen bestimmt. In diesem Klima des Misstrauens gibt es keine Sicherheiten.
*Name von der Redaktion geändert.