In Armenien gibt sich die Protestbewegung mit dem Sturz des Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan nicht zufrieden

Stur wie Samt

Massenhafter ziviler Ungehorsam brachte den armenischen Minister­präsidenten Sersch Sargsjan zu Fall. Die friedliche Revolte gegen das politische Establishment der ehemaligen Sowjetrepublik im Süd­kaukasus geht jedoch weiter.

Nach dem Rücktritt von Sersch Sargsjan sollte das armenische Parlament am 1. Mai einen neuen Ministerpräsidenten wählen. Unter dem anhaltenden Druck der Protestbewegung verzichtete die regierende Republikanische Partei (RPA) auf einen eigenen Kandidaten. Der Protestführer Nikol Paschinjan war der einzige Kandidat, doch er war auf Stimmen der Republikaner angewiesen, die im Parlament über die absolute Mehrheit verfügen. Während der neunstündigen Parlamentssitzung starrte man in Armenien gespannt auf die Fernsehschirme. Als die Dämmerung über die Hauptstadt Eriwan hereinbrach, wurde immer klarer, dass die Republikaner Paschinjan nicht wählen würden. Er verlor die Abstimmung mit 45 zu 55 Stimmen. Daraufhin versammelten sich 150 000 Menschen zur Protestkundgebung am Platz der Republik. Die »samtene Revolution« ging weiter. Am Tag darauf legte ein Generalstreik das ganze Land lahm.

Die RPA und ihr Karabach-Klan um Robert Kocharjan und Sersch Sargsjan sind seit knapp 20 Jahren an der Macht in Armenien. Die Partei bezeichnet sich als nationalkonservativ. Ideologisch stützt sie sich jedoch auf den semi­faschistischen Zegakronismus, die Rassentheorie des armenischen Antisemiten und Nazikollaborateurs Garegin Nzhdeh. 2016 wurde diesem ein Denkmal im Herzen Eriwans gewidmet. Sargsjan würdigte dabei die Verdienste des »großen Staatsmannes«.

In systematischer Korruption sowie dem Mangel an Grundfreiheiten und einer unabhängigen Judikative manifestiert sich die Kontrolle der RPA über den gesamten Staatsapparat. Ein Armenien ohne sie und die ehemaligen Sowjet-Funktionäre Kocharjan und Sargsjan schien vor wenigen Wochen noch unvorstellbar. Bei der Wahl 2008 übergab Kocharjan das Präsidentenamt an Sargsjan. Paschinjan spielte auch damals eine zentrale Rolle bei den Protesten gegen den betrügerischen Wahl­ablauf. Sargsjan und Kocharjan ließen die Proteste am 1. März 2008 niederschlagen. Zehn Menschen wurden dabei getötet, viele weitere schwer verletzt. An die 100 Regierungsgegner wurden verhaftet, darunter auch der ehemalige Journalist Paschinjan, der zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Im Zuge einer Amnestie wurde er 2011 freigelassen. 2017 schloss sich seine Partei Bürgervertrag mit anderen Kleinparteien zum Bündnis Yelk (Ausweg) zusammen; dieses wurde im selben Jahr ins Parlament gewählt. Sargsjan initiierte derweil eine Verfassungsänderung und wollte sich mit einer Postenrochade, wie sie bereits Wladimir Putin in Russland erprobt hatte, an der Macht halten. Am 31. März begann Paschinjan den Protestmarsch »Qayl Ara« (Tu einen Schritt) gegen Sargsjan.

Die tragischen Ereignisse vom 1. März 2008 jährten sich dieses Jahr zum zehnten Mal. Am Abend nach dem Gedenken trafen sich Oppositionelle auf einige Gläser Wein, darunter Maria Karapetjan. Frustriert angesichts der lang währenden politischen Apathie gründeten sie die Bewegung #MerjirSerjin (»Sersch ablehnen«). Mitte April vereinigten sich die beiden Protestbewegungen – ein entscheidender Moment. »Plötzlich explodierte die Bewegung. Die Menschen haben die ganze Energie, die sie in der langen Zeit des Wartens und Leidens gesammelt haben, auf die Straße getragen«, beschreibt Karapetjan den massenhaften zivilen Ungehorsam, der Sargsjan am 23. April zum Rücktritt zwang. Als sich die RPA daraufhin wenig verhandlungsbereit zeigte, flammten die Proteste erneut auf.

 

Die junge Generation von Armenierinnen und Armeniern hatte sich bereits davor in zivilem Ungehorsam geübt. Nach 2008 und vor allem seit #ElectricYerevan, den Protesten gegen steigende Energiepreise im Jahr 2015, fand ein allgemeiner Politisierungsprozess statt. Gruppen und Bewegungen setzten sich mit Themen wie sozialer Ungleichheit, Geschlechterfragen, Antimilitarismus, Stadtentwicklung, Menschenrechten und Ökologie auseinander.

»Unsere Stärken sind dezentrale Organisation und Gewaltfreiheit. Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Als wir uns immer nur an einem Ort versammelten, waren wir angreifbar und unsere Vorgangsweise war berechenbar. Dieses Mal wusste kaum jemand Bescheid, wo in der Stadt gerade Aktionen stattfinden«, erzählt Karapetjan. »Wir wussten, dass wir gegen die Staatsgewalt nur eine Chance hätten, wenn wir ihr keinen Grund zum Einschreiten geben. Durch Mindestvorgaben wie Gewaltfreiheit erreichten wir eine enorme Anschlussfähigkeit und ein Maximum an Anwendungsmöglichkeiten des zivilen Ungehorsams.«

Auch die Beteiligung von Frauen sieht Karapetjan als essentiell für den Erfolg der Proteste: »In weiten Teilen des Protests hatten wir ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. Frauen ­organisierten sich selbst und planten eigene Aktionen. Sie stellten damit Rollenvorstellungen und auf den Kopf und brachen Tabus. Ich hoffe, dass diese kleinen Veränderungen nicht wieder einer patriarchale Grundhaltung weichen werden.« Nicht nur Frauen, sondern auch alle sexuellen Minderheiten erlangten bei den Protesten Stimme und Akzeptanz, fügt sie hinzu. »Dieses Mal hatte ich den Eindruck, dass gemeinsam gekämpft wird, ohne die ­jeweilige Geschlechts- oder Gruppen­identität in Frage zu stellen.«

Zumindest bis zum 8. Mai werden die Proteste anhalten. Dann wird das Parlament ein weiteres Mal versuchen, einen Ministerpräsidenten zu wählen. Scheitert die Abstimmung erneut, wird das Parlament nach den Bestimmungen der Verfassung aufgelöst und es werden vorgezogene Neuwahlen angesetzt. Wird Paschinjan gewählt, verspricht er als Übergangsministerpräsident ebenso Neuwahlen. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Im ersten Fall wird der gesamte Wahlprozess von der regierenden RPA kontrolliert – und deren Wahlbetrug hat Methode. Der Politikwissenschaftler Edgar Vardanjan geht daher nicht von freien und fairen Bedingungen aus.

Paschinjan hingegen will als Ministerpräsident erst die Wahlgesetzgebung ändern, um Manipulationen zu verhindern. Auch hier könnte sich die RPA dank ihrer absoluten Mehrheit querstellen, doch der Druck der Proteste ist hoch. »Die Republikaner haben bereits jeglichen Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Die Bewegung wird nur einen Sieg akzeptieren. Freie und faire Wahlen sind ihr Minimalziel«, meint Vardanjan. Zudem fordert die »samtene Revolution« Gewaltenteilung, ein Ende der systematischen Korruption sowie die Sicherstellung von fundamentalen Grundfreiheiten und sozialen Rechten.

Auf dem Weg zu einer freieren und demokratischeren Gesellschaft müssen die Armenierinnen und Armenier einige Hindernisse überwinden. Zusätzlich zu den internen politischen und sozialen Problemen bergen der anhaltende Konflikt mit Aserbaidschan um das Gebiet Bergkarabach und die allgemeinen politischen Spannungen in der Region eine hohe Eskalationsgefahr. Risiken lauern auch in der Protestbewegung selbst: Mittlerweile haben sich nationalistische Gruppierungen sowie Oligarchen den Protesten angeschlossen und wollen sie für ihre Zwecke nutzen. Auch der Personenkult um Paschinjan wächst. Vardanjan hat jedoch großes Vertrauen in die Protestbewegung: »Die politische Kultur in Armenien hat sich grundlegend verändert. Die Zivilgesellschaft ist kritisch und selbstbewusst. Ich bin ich zuversichtlich, dass sie eine neu gewählte Regierung um Paschinjan unter Druck setzen wird und unter Kontrolle halten kann.«