Das Thesenpapier der Linkspartei zur Migration ist zu verteidigen

Regulieren ist notwendig

Gastbeitrag Von Michael Leutert

Ohne Einwanderungspolitik würde Migration ausschließlich durch den Markt reguliert. Auch das ist nicht links. Eine Replik auf den Beitrag von Ceren Türkmen und Bernd Kasparek, die das Thesenpapier zur Einwanderungspolitik der Linkspartei als »Lob der Grenzen« kritisiert haben.

Vergangene Woche haben Ceren Türkmen und Bernd Kasparek an dieser Stelle den Versuch unternommen, das »Thesenpapier zu einer human und ­sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik« der Partei »Die Linke« einer kritischen Analyse zu unterziehen. Das ist ihnen nicht besonders gut ­gelungen. Mit einem leicht überheblichen und realitätsfernen Blick auf die Verhältnisse versuchen sie in soziologisch verpackter Sprache, die Autorinnen und Autoren des Thesenpapiers, zu denen auch der Schreibende gehört, in die rechtsnationale Ecke zu stellen. Auf konkrete Vorschläge, die im Papier enthalten sind, gehen die beiden Autoren nicht ein, auch eigene Ideen stellen sie nicht vor.

Menschen in Schubladen zu stecken, in die sie nicht passen, und rein theo­retische Debatten ohne Realitätsbezug zu führen: Das sind zwei Grundpro­bleme der derzeitigen Linken.

Um unser aller Freund Karl Marx zu bemühen: Es geht darum, die Welt zu verändern, nicht darum, sie verschieden zu interpretieren. Um dies tun zu können, müssen sich politisch Handelnde an nicht »selbstgewählten, sondern an unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen« orientieren – also an vorhandenen Fakten und Bedingungen und nicht daran, was wünschenswert wäre und eventuell irgendwann einmal sein könnte. ­Diese politischen Akteure müssen für ihr Handeln und dessen Folgen Ver­antwortung übernehmen. Die Welt zu verändern, bedeutet, dass es in Zukunft mehr Menschen als zuvor gut geht, das ist linke Politik.

Angesichts der realen Bedingungen singt niemand ein »Lob der Grenzen«, wie Türkmen und Kasparek den Verfasserinnen und Verfassern des Thesenpapiers unterstellen, sondern es wird lediglich zur Kenntnis genommen, dass Grenzen existieren. Bundesdeutsche Gesetze haben nur Wirkung auf deutschem Hoheitsgebiet und nicht in Polen oder Frankreich. Schon das ist eine reale Begrenzung. Niemand behauptet in dem Papier, dass es legitime und illegitime Zuwanderung gebe. ­Beschrieben wird nur der Umstand, dass Menschen aus unterschiedlichen Gründen in unser Land einreisen ­wollen. Und weil es verschiedene Ursachen von Migration gibt, benötigen wir auch verschiedene Zugangswege und machen dafür Vorschläge. Würden wir eine Form der Migration als illegitim ansehen, würden wir wohl kaum Vorschläge dafür unterbreiten, wie ­diese realisiert werden könnte.

Es ist absolut richtig und mit linker Programmatik kompatibel, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen in den Aufnahmeländern ebenfalls im Blick zu haben.

Viele nehmen den gesellschaftlichen Istzustand in Europa als selbstverständlich und immerwährend hin. Das ist absurd. Dass in Europa seit Jahrzehnten keine innerstaatlichen kriegerischen Auseinandersetzungen existieren, dass die europäischen Gesellschaften ohne zwischenstaatliche Grenzkontrollen auskommen, dass wir ein europäisches Parlament haben und dass wir bei aller immer noch vorhandenen sozialen ­Ungerechtigkeit trotzdem im Wohlstand leben, ist Ergebnis erbitterter Kämpfe und grauenvoller Erfahrungen. Dies zu bewahren und zu beschützen, ist unser aller Verantwortung. Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sind zarte Pflänzchen, die langsam wachsen, aber schnell zertrampelt werden können, wie man unter anderem in Ungarn und Polen auch in Europa beobachten kann. Wenn das passiert, würde in Zukunft kein Flüchtling mehr aufgenommen werden, sofern dann noch jemand zu uns kommen will. Den Menschen in unseren Ländern würde es dann auch nicht unbedingt besser ­gehen. Aus diesem Grund ist es absolut richtig und mit linker Programmatik kompatibel, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen in den Aufnahmeländern ebenfalls im Blick zu haben. Die Bürgerinnen und Bürger der ­EU-Staaten haben das Bedürfnis nach ­persönlicher und sozialer Sicherheit und auch kulturelle Bedürfnisse – genau wie die Migrantinnen und Migranten. Wo ein linkes Vorhaben hinführt, wenn die politischen Entscheidungsträger all dies nicht berücksichtigen, kann man in der Geschichte zur Genüge betrachten. Alle diese Versuche sind gescheitert, meistens brutal und blutig.

Eine Politik, die sich nicht an diesen historischen Erfahrungen und nicht an den Errungenschaften europäischer Gesellschaften orientiert, kann nicht links sein.

 

Unter Anerkennung dieser Faktoren, dass wir derzeit nämlich an einen staatlichen Handlungsrahmen gebunden sind, dass wir die Interessen der eigenen Bevölkerung berücksichtigen müssen und dass es verschiedene Gründe und Motivationen für Migration nach Europa gibt, kommt man zwangsläufig zur Position, die ­Migration zu regulieren. Deshalb benötigen wir ­erstens die vollständige Wiederherstellung des Asylrechts als Individualrecht ohne Dublin-Regelung, ohne »sichere Herkunftsstaaten« und ohne Obergrenzen. Zweitens ist es notwendig, Flüchtlingen den notwendigen Schutz für ihr Leben und ihre Gesundheit zu gewährleisten. Dafür gibt es verschiedene Optionen, wie zum Beispiel die verbindliche Teilnahme am UN-Resettlement-Programm, Unterstützung anderer Aufnahmeländer sowie UN-Organisationen und NGOs, die für den Flüchtlingsschutz zuständig sind. Drittens benötigen wir ein Einwanderungsgesetz für Menschen außerhalb der EU, die aus legitimen und nachvollziehbaren wirtschaftlichen Gründen einwandern wollen.

Gesetze haben immer auch ungewollte Folgen. Damit werden Rahmenbedingungen für Anreize oder eben für den gegenteiligen Effekt ­gesetzt. Dies betrifft auch ökonomische Interessen, meist die der ­Herkunftsländer. Wenn wir, mit Regulierung oder ohne, zulassen, dass massenhaft gut qualifizierte Arbeitskräfte wie Ärzte, Ingenieure und Techniker aus anderen Ländern zu uns kommen, entziehen wir diesen Ländern ihr Ent­wicklungspotential und ihre gesellschaftliche Perspektive. Bei uns hingegen werden Fehlentwicklungen wie Fachkräftemangel, die durch Fehlentscheidungen herbeigeführt wurden, auf Kosten der Herkunftsländer kompensiert. Das bewusst zu tun oder zu dulden, ist nicht nachhaltig, links oder progressiv. Das ist kontraproduktiv, unsolidarisch, ja neokolonialistisch. Wichtig ist, solche Länder auf Augenhöhe zu unterstützen, durch Entwicklungszusammenarbeit und fairen Handel, um ihnen eine selbsttragende wirtschaft­liche Perspektive zu ermöglichen.

Ohne Einwanderungsgesetz wird es auch in Zukunft Migration geben, und auch diese würde reguliert werden – durch den Markt. Wer das Geld hat und es sich leisten kann, wird kommen. Der Rest wird bleiben müssen, wo er ist. Soll diese Marktregulierung ein linkes Konzept sein? Sie ist ein viel drastischeres Instrument zur Ausübung von Herrschaft, sozialer Kontrolle und Entrechtung von Migranten, als wenn Zuwanderung durch demokratisch ­beschlossene Gesetze gesteuert wird. Außerdem würde mich interessieren, mit welchen Instrumenten die Befürworter von »offenen Grenzen für alle« die Ungerechtigkeit ausgleichen wollen, dass sich manche das vermeintliche Zuwanderungsrecht erkaufen können und andere eben nicht. In unserem ­Sozialsystem gibt es für Menschen mit niedrigem Einkommen das Mittel der Transferzahlungen als sozialen Ausgleich. Niemand würde auch nur annähernd ernsthaft in Erwägung ziehen, dieses sozialstaatliche Instrument für potentielle mittellose Migranten an­zuwenden.

Schließlich möchte ich noch bemerken, dass jede Einwanderungspolitik auf europäischer Ebene, die einer humanen und sozialen Logik folgt, der­jenigen auf nationalstaatlicher Ebene vorzuziehen wäre. Aber auch da hätte man ein klar definiertes Gebiet mit klar gezogenen europäischen Außengrenzen, innerhalb deren Gesetze ihre Kraft entfalten können. Es ist sehr wohl möglich, sich auch vom national verfassten Sozialstaat zu lösen.

Seit jeher bin ich ein Verfechter eines europäischen Staates. Die europäische Linke war zu diesem Schritt jedoch leider nicht bereit und lehnte die EU-Verfassung ab. Meines Erachtens war das einer der schwersten Fehler, die wir bisher begangen haben. Aber auch dann wäre eben immer noch ein Staat vorhanden. Jede Vorstellung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaat ­jenseits von Nationalstaaten oder einem europäischen Staat beziehungsweise Staatenbund zu organisieren, ist pure Utopie.

 

Der Autor ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestags und Mitverfasser des »Thesen­papiers zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik« der Partei »Die Linke«.