Die allgemeine Wehrpflicht sollte wiedereingeführt werden

Zu den Waffen, Genossen

Seit der Abschaffung der Wehrpflicht steigt die Zahl der National­revolutionäre, Nationalkonservativen und Islamisten in der Bundes­wehr. Um eine Faschisierung der Armee zu verhindern, bedarf es einer radikalen wehrpolitischen Wende in der Linken.

Der 25. April ist der Jahrestag der portugiesischen Nelkenrevolution, die von Linken unbestritten als Fortschritt betrachtet wird und die nicht nur die mit dem Franquismus verbündete Diktatur, sondern auch den blutigen Kolonialkrieg in Angola, Mosambik und Portugiesisch-Guinea beendete. Diese Revolution wurde von linken Offizieren mit der Übertragung eines geheimen Signals, des verbotenen antifaschistischen Lieds »Grândola, Villa Morena«, begonnen und erhielt ihren ­Namen wegen der Nelken, die die Bevölkerung den aufständischen Soldaten in die Gewehr­läufe steckte. Da die Nelkenrevolution von Militärs eingeleitet wurde, dient sie als Beispiel dafür, dass die Sache mit dem Militär nicht immer so einfach und eindeutig ist, wie viele »antimilitaristische« Linke in der BRD glauben.

Viele Linke wissen heute nicht mehr, dass die Forderung nach einer allgemeinen Wehrpflicht beziehungsweise einer »Volksbewaffnung« im 19. und 20. Jahrhundert eine linke Kernposition war. Der Gedanke, dass eine Wehrpflicht und Genossen in der Armee ein Bollwerk gegen rechtsreaktionäre ­Putschisten und eine verselbständigte Armee seien, findet sich im SPÖ-Programm von 1888, im Erfurter Programm der SPD von 1890 (Dritter Punkt: »Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere«) und in Rosa Luxemburgs »Miliz und Militarismus«. Marx forderte, alle Arbeiter müssten »bewaffnet und organisiert sein. Die Bewaffnung des ganzen Proletariats mit Flinten, Büchsen, Geschützen und Munition muss sofort durchgesetzt, der Wiederbelebung der alten, gegen die Arbeiter gerichteten Bürgerwehr muss entgegengetreten werden.«

Die neuesten Zahlen bestätigen, dass die Aussetzung der Wehrpflicht die rechten Tendenzen in der Bundeswehr enorm befördert hat.

Am deutlichsten wurde die Konfrontation in den USA, wo es nie eine Wehrpflicht im eigentlichen Sinne ­gegeben hat. Dort rief Albert Parsons in Chicago beim Streik von 1877 zur ­Arbeiterbewaffnung auf, was ein Jahr später das Verbot sämtlicher Milizen außer der offiziellen State Militia zur Folge hatte. Dieses Verbot erleichterte das Vorgehen von Polizei und Justiz gegen die Arbeiterbewegung.

Daraufhin wurde 1886 nach dem bekannten Anschlag auf dem Haymarket die gesamte Führung der Chicagoer Arbeiterbewegung um Parsons ohne ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Verfahren hingerichtet – dass ein solcher Justizskandal beim Risiko eines bewaffneten Aufstands eher ausgeblieben wäre, ist ­offensichtlich und entspricht ironischerweise dem bürgerlich-­revolutionären Gründungsgedanken der USA. »Volksbewaffnung« und Wehrpflicht stellen die mächtigste Form der Kontrolle der Herrschenden durch die Bevölkerung dar. Aus dieser Über­legung heraus wurden die Milizen der Staaten des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs im zweiten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung verankert: »Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.« Die ­Forderung nach einer Bewaffnung der Masse der Bevölkerung, ob nun in Form einer Miliz oder einer allgemeinen Wehrpflicht, ist essentieller ­Bestandteil jeder fortschrittlichen Idee seit der Amerikanischen Revolution. ­Jeder Angriff auf diese Forderung ist ein Rückschritt hinter die bürgerliche Revo­lution.

 

Nun ist seit Marx’, Parsons und Luxemburgs Zeiten viel geschehen, die Frage der nahenden Revolution stellt sich in der BRD derzeit nicht, aber ­dafür gibt es aber das drängende Problem einer Faschisierung der Bundeswehr. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) konstatiert, dass es seit der Aussetzung der Wehrpflicht in der Bundeswehr »praktisch keine Linken mehr« gebe, dafür aber vermehrt Nationalrevolutionäre, Nationalkonser­vative und Islamisten. Matern Boeselager schildert in der Zeitschrift Vice, dass er seit seiner Ableistung der Wehrpflicht ebendiese für eine gute Idee halte. Die Wehrpflicht könne verhindern, dass sich die Bundeswehr immer weiter von der Gesellschaft abkapsele. Er berichtet, wie er mit anderen Sol­daten – schließlich wollten die meisten dort ohnehin keine Karriere machen – die rechtsradikalen Sprüche des Aus­bilders intensiv habe diskutieren können. Daraufhin beschloss er, den Ausbilder bei den zuständigen Stellen zu melden. Die neuesten Zahlen bestätigen, dass die Aussetzung der Wehrpflicht die rechten Tendenzen in der Bundeswehr enorm befördert hat: Nach einer Anfrage der Linkspartei an das Verteidigungsministerium er­mittelt der MAD derzeit wegen über 431 Verdachtsfällen von Rechtsextremismus; im Jahr 2017 gab es 46 Verdachtsfälle von Islamismus und 2016 50, aber keine Ermittlungen wegen des Verdachts auf Linksradikalismus.

Es lohnt sich zu überlegen, ob Linke ihre ablehnende Haltung gegen die Bundeswehr überdenken, die alte Forderung nach einer »Volksbewaffnung« aufgreifen und durch die Forderung nach Wiedereinführung der Wehrpflicht Nachdruck verleihen sollten.

Wozu eine derartige Abschottung, Radikalisierung und Racketisierung der Armee führen kann, zeigen etwa die Beispiele der Militärputsche in Chile und Spanien, ebenso wie die Niederschlagung des antifaschistischen Februaraufstands 1934 in Österreich. In all diesen Fällen scheiterten vielversprechende linke Vorhaben, weil sie durch eine von der breiten Bevölkerung und damit auch von allen progressiven Elementen der Gesellschaft abgekoppelte Armee zerschlagen wurden, deren Offiziere und Generäle sich ganz der Reaktion verschrieben hatten. Der Einsatz des Militärs gegen linke Bewegungen, die die Unterstützung breiter Teile der Bevölkerung genossen, war nur deshalb möglich, weil das bewaffnete Berufsheer die Ansichten der Junta-Generäle teilte. Die Nelkenrevolution wäre ohne antifaschistische Offiziere und Fußsoldaten nicht möglich gewesen – der Putsch von Augusto Pinochet dagegen funktionierte nur, weil es diese Offiziere und Soldaten kaum gab.

Die typische und bereits im 20. Jahrhundert ausgiebig von sozialistischen Linken kritisierte Haltung des kleinbürgerlichen Pazifismus ist die abstrakte Verneinung der Armee, des Krieges und des Militärs, sie lässt sich in Wolf Biermanns »Soldat, Soldat« auf den Punkt bringen. Da heißt es: »Soldat Soldat, wo geht das hin / Soldat Soldat, wo ist der Sinn / Soldat Soldat, im nächsten Krieg / Soldat Soldat, gibt es kein Sieg / Soldat, Soldat, die Welt ist jung / Soldat Soldat, so jung wie du / Die Welt hat einen tiefen Sprung / Soldat, am Rand stehst du«. Diese ­Haltung ist in dieser abstrakten Form falsch, auch wenn es selbstverständlich richtig bleibt, dass die Welt »einen tiefen Sprung« hat, sofern damit gemeint ist, dass die kapitalistische Produktionsweise und miteinander unnachgiebig konkurrierende Nationalstaaten und Blöcke zwangsläufig immer wieder Kriege produzieren. Biermann unterschlägt oder vielmehr verdrängt hier, dass der Erste Weltkrieg nicht zuletzt von streikenden und meuternden Soldaten und Matrosen beendet wurde.

Soldaten sind sich selbstverständlich nicht alle gleich, sondern versuchten etwa als eher anarchistisch geprägte Rote Ruhrarmee das Ruhrgebiet vor rechtsradikalem Terror zu schützen. In diesem Sinne war auch die bundesdeutsche Linke schon einmal weiter: »Zwei Seiten hat die Barrikad’, / wo stehst du, Bundeswehrsoldat?« wurde etwa in der Entgegnung auf Biermann von einer leninis­tischen Agitpropsonggruppe gesungen. Selbstverständlich sollte die Abschaffung des Militärs das Endziel ­einer emanzipatorischen Linken bleiben, es stellt sich nur die Frage, wie man im Hier und Jetzt mit einer Welt umgeht, in der nationale Armeen ­ohnehin auf absehbare Zeit zum Status quo gehören werden. Man kann sie auch nicht durch abstrakte Negation verschwinden lassen. Auffällig ist ­hingegen, dass sehr viele rechte Militärputsche von Berufsheeren durch­geführt wurden.

Es lohnt sich also zu überlegen, ob Linke ihre ablehnende Haltung gegen die Bundeswehr überdenken, die alte Forderung nach einer »Volksbewaffnung« aufgreifen und durch die Forderung nach Wiedereinführung der Wehrpflicht Nachdruck verleihen sollten. Dies wäre nicht nur in Hinblick auf die Verhinderung einer sich faschisierenden Berufsarmee sinnvoll, ­sondern auch in Hinblick auf eine Stärkung der militärischen Kompetenz der Linken. Auch wenn im Augenblick keine Revolution zu erwarten ist, wäre die Wehrpflicht sinnvoll, um die ­eigenen analytischen Fähigkeiten zu stärken, etwa beim Umgang mit bewaffneten Konflikten.