Kevin Kühnert, Juso-Vorsitzender, im Gespräch über linke Politik mit der SPD

»Mit der SPD gibt es keine Garantie für progressive Mehrheiten«

Interview Von Julia Hoffmann

Kevin Kühnert (geb. 1989) ist seit dem Bundeskongress 2017 in Saarbrücken Bundesvorsitzender der Jusos. Bekannt wurde er vor allem durch die von ihm angeführte Kampagne #NoGroko gegen eine Regierungskoalition der SPD mit den Unionsparteien.

Auf Twitter schrieben Sie: »Nicht meine Sammlungsbewegung«. Soll das bedeuten, dass Sie keine neue linke Bewegung gemeinsam mit Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine ins Leben rufen möchten?
Ich bin grundsätzlich sehr an linken Bewegungen interessiert. Doch das, was sich da im Moment formiert, ist für mich keine Grundlage für irgendeine Form von linker Verständigung. Die brauchen wir, aber nicht so und nicht mit diesen Personen an der Spitze.

Bedeutet Verständigung dennoch die Gründung einer neuen Gruppe?
Die natürliche linke Sammlungsbewegung ist ja rot-rot-grün, jedenfalls auf der parlamentarischen Ebene. Damit müssen wir arbeiten und die Konstellation hatte ja auch in den vergangenen vier Jahren eine Mehrheit im deutschen Bundestag sowie in einigen Bundesländern. Natürlich gehören auch zivilgesellschaftliche Gruppen zu einer Bewegung. Aber das alles muss man nicht neu erfinden, um Politik funk­tionsfähig zu machen.

Ist der Versuch dieser Neuerfindung ein Ausdruck des Versagens linker Politik?
Offensichtlich gibt es in Teilen der politischen Linken in Deutschland eine gewisse Unfähigkeit, aus theoretischen Mehrheiten auch praktische zu machen. Das ist natürlich frustrierend für viele links denkende und handelnde Menschen, wenn da auf Dauer nichts vorankommt. Zwar hat die SPD vor Jahren einen Beschluss gefasst der die Zusammenarbeit mit der Linkspartei theoretisch möglich macht, passiert ist seither wenig. In allen drei Parteien gibt es seit Jahren ritualisierte Abwehrreflexe. Das hat auch viel mit persön­licher Animosität und Vorgeschichten zu tun. Gerade bei Personen wie Lafontaine, die eine Vergangenheit in der SPD haben. Das alles hat dazu geführt, dass das bisher nicht funktioniert hat.

Die Linke in Deutschland hat derzeit nicht einmal mehr theoretische Mehrheiten.
Im Moment nicht. Zuletzt hatten wir sie, da haben wir sie aber nicht genutzt. Wären demnächst Bundestagswahlen und es gäbe diese Mehrheit wieder, sehe ich auch nicht, wie wir die nutzen würden, weil das bislang nicht vorbereitet wurde. Alle können wunderbar begründen, woran eine Zusammenarbeit scheitert: an internationaler Politik, an Militäreinsätzen, an der Frage der Zukunft Europas.

Es gibt aber kaum relevante Schritte, um sich genau diesen Problemfeldern zu widmen. Stattdessen werden Maximalforderungen in den Raum gestellt, gerade Wagenknecht und Lafontaine haben das immer wieder getan.

Ist deren Versuch, eine Sammlungsbewegung zu gründen, dennoch eine Gefahr für die SPD?
Die SPD hat im Augenblick genug an sich selbst zu arbeiten. Da muss niemand am Horizont winken, um uns die Dramatik der Situation vor Augen zu führen. Ganz konkret scheint mir die Bedrohung für die Linkspartei größer, weil dahinter der innerparteiliche Konflikt zwischen denen steckt, die eher emanzipatorisch denken und ­denen, die eine Traditionslinke wollen.

Gibt es eine Konkurrenzsituation beim Versuch, die Wählerstimmen zurückzugewinnen, die sowohl die SPD als auch die Linkspartei bei der vergangenen Wahl an die AfD verloren haben?
Das ist auf jeden Fall eine Wählergruppe, die für beide Parteien grundsätzlich erreichbar und für soziale Fragen empfänglich ist. Aber das ist keine große Überraschung innerhalb des Mitte-links-Spektrums. Solange es am Ende eine linke Mehrheit gibt, können und müssen sich die Stimmen auch auf verschiedene Parteien verteilen.

Aber letztlich möchte jede Partei die Mehrheit.
Es geht natürlich um Mehrheiten. Aber ich mache Politik, weil ich Dinge praktisch verändern möchte. Ich bin in einer Partei, die heute bei unter 20 Prozent liegt, sie kann also ihre Politik nicht alleine umsetzen. Dann stellt sich die Frage, mit wem tut man das zusammen? Verbaue ich mir solche Optionen also auch noch, indem ich diese Parteien rhetorisch zu meinen größten Konkurrenten mache? Das sollte man nicht tun, das ist unklug. Denn die Gegner unseres Politikentwurfs sind woanders zu finden.

Die SPD und die Gewerkschaften waren nie frei von rechten Einstellungen. Viele dieser Menschen wählen heute die AfD. Wie gewinnen Sie die zurück?
Es gibt eine deutsch-französische Studie aus den Hochburgen der AfD und des Front National in Frankreich. Darin beschreiben die Menschen ihr Gefühl, abgehängt zu sein, und dass Politik weit weg stattfinde, sich um globale Fragen kümmere, während die Dinge in ihrem Umfeld immer schlechter würden. Das ist die klassische Klientel linker Parteien. Das sind die Menschen, die auf ­einen handlungsfähigen Staat angewiesen sind und zuletzt erlebt haben, dass der häufig nach betriebswirtschaftlichen Kriterien kaputtgespart wurde. Es darf aber keine Notwehr sein, dann die AfD zu wählen. Klar findet man auch Menschen mit latent rechten Einstellungen oder sogar einem geschlossenen rechten Weltbild. Letzteren kann und darf man kein politisches Angebot für irgendeine Form von linker Politik machen, das geht gar nicht. Bei den anderen glaube ich nicht, dass ihre Einstellungen zwingend wahlentscheidend sind, auch wenn man sich selbstverständlich nicht mit ihnen abfinden darf.

Inhaltlich scheint es Teilen der Linkspartei um die Wiederkehr des starken Staates zu gehen. Lafontaine sagte kürzlich, die »Sehnsucht nach Schutz durch den Staat ist nicht rechts«. Ist der starke Staat links?
Ich kann mich mit der Formel »starker Staat« als Sozialdemokrat schon anfreunden. Da denke ich in erster Line an einen starken Sozialstaat, der dazu in der Lage ist, soziale Härten und Unwägbarkeiten abzusichern, ob das Krankheit oder Pflege oder Erwerbsunfähigkeit ist. Es geht darum, eine starke ­Daseinsvorsorge zu schaffen und ein Gemeinwesen bereitzustellen, das in der Lage ist, unterschiedliche Voraussetzungen auszugleichen.

Selbst beim Thema Sicherheit kann man das so definieren. Denn gerade diejenigen in der Gesellschaft, denen es nicht so gut geht, die nicht das Geld haben, sich ihr Eigenheim aufzurüsten und abzusichern, sind darauf angewiesen, dass der Staat Sicherheit gewährleistet. Die Gefahr ist aber immer, dass Menschen das als Türöffner betrachten, um aus einem legitimen Bedürfnis nach Sicherheit einem Überwachungsstaat das Wort zu reden. Eine linke Bewegung muss einen emanzipatorischen Anspruch haben und nicht einfach einen vermeintlichen Volkswillen exekutieren.

 

Der starke Staat beinhaltet aber auch starke Grenzen. Auch Andrea Nahles und Karl Lauterbach verfechten diese. Ist das emanzipatorisch?
Hier ist es dasselbe Muster. Es gibt Stimmen in der Gesellschaft, die genau das fordern: Grenzen zu, keinen mehr reinlassen. Die denken, damit seien ihre Probleme gelöst. Ich erwarte auch da eine differenziertere Herangehensweise und dass man den Menschen erklärt, was passiert. Wir können ja morgen die Grenzen schließen und alle rausschmeißen, die keinen Aufenthaltstitel haben. Aber davon wird der Hartz-IV-Satz auch nicht höher, die Schulen und die Infrastruktur im ländlichen Raum werden nicht besser. Genau deshalb möchte ich eine Linke, die dem widerspricht und auch den Nutzen und die Notwendigkeit von Zuwanderung erklärt und das Grundrecht auf Asyl leidenschaftlich verteidigt.

Wagenknecht vertritt die These, dass es durch Zuwanderung zu einer Konkurrenzsituation im Niedriglohnbereich komme. Hat Zuwanderung auch soziale Nachteile?
Viele Menschen haben die Wahrnehmung, dass es über Jahre hinweg zu Ungerechtigkeiten im Zuge der Zuwanderung gekommen sei. Vergessen wird dabei, dass seit 20 Jahren gesagt wird, der Staat solle sich bei der Finanzierung des Gemeinwesens besser zurückhalten. In den Augen vieler Menschen steht das im Widerspruch zu den Summen, die aufgewendet wurden, um Unterkünfte, Verpflegung und Bildung für Geflüchtete zur Verfügung zu stellen. Den Widerspruch löst man aber nicht auf, indem man gegen Migration wettert, sondern nur, indem man kritisiert, dass an öffentlicher Infrastruktur gespart wurde, dass der Arbeitsmarkt dereguliert und Privatisierungen betrieben wurden. Die Anwesenheit von ein oder zwei Millionen Geflüchteten ist nicht der Grund für Probleme, die schon vorher da waren. Natürlich steigt die Akzeptanz für Geflüchtete, wenn die Menschen merken, dass für ihre Belange gesorgt ist. Für viele ist das die Voraussetzung für Solidarität.

Was ist das aktuelle Angebot der Sozialdemokratie?
Das Kerngeschäft der Sozialdemokratie war immer, Solidarität zwischen verschiedenen Gruppen herzustellen, die vielleicht unterschiedliche Interessen haben. Die SPD stand ja nie an der Spitze der Antiatombewegung und die ­Sozialdemokraten waren auch nicht die ersten, die die Ehe für alle gefordert haben. Aber ohne uns wären die großen Schritte in diesen Bereichen am Ende nicht möglich gewesen, weil wir ganze Milieus damit solidarisiert haben.

Selbst mit der SPD war dies aber lange nicht möglich.
Die parlamentarische Mehrheit wäre ohne die SPD nicht möglich gewesen. Das ist die Krux mit der SPD, es gibt keine Garantie für progressive Mehrheiten mit ihr, aber es gibt eine Garantie dafür, dass es keine progressiven Mehrheiten ohne sie gibt. Deswegen halte ich es auch für richtig, weiter für und in dieser Partei zu kämpfen. Es ist ein Irrglaube, dass man diese Partei abwickeln muss und dann entsteht etwas Neues und Hippes.

Sollte man also eher das Bestehende verteidigen?
Nicht als Selbstzweck. Niemand wird aus Gnade oder historischer Rührseligkeit noch die SPD wählen. Außer vielleicht unsere Mitglieder. Aber die Strukturen, die wir haben, sind arbeits­fähig. Damit Rot-Rot-Grün miteinander ins Gespräch kommen, müssen auch die Vorstände der Parteien aktiv werden.