In keinem westdeutschen Bundesland ist die Tarifbindung niedriger als in Bayern

Arbeitgeberparadies ohne Tarifbindung

Während Bayerns Wirtschaft boomt, müssen immer mehr Arbeitnehmer in dem Freistaat ohne Tarifvertrag auskommen.

In Bayern ist alles besser – so lautet das Mantra der CSU. Als »Vorstufe zum Paradies« bezeichnet der frühere bayerische Ministerpräsident und derzeitige Bundesinnenminister Horst Seehofer das Land. Gerade auf dessen Wirtschafts­kraft zeigt man sich im Freistaat besonders stolz. Tatsächlich fahren bayerische Konzerne Jahr für Jahr Rekordgewinne ein, während die Arbeitslosigkeit einen Tiefststand erreicht hat und in vielen Teilen des Lan­des sogar ein erheblicher Mangel an Arbeitskräften beklagt wird. Goldene Zeiten für Arbeitnehmer, die bei vollen Auftragsbüchern bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen durchsetzen können – sollte man meinen. Die nun veröffentlichte Studie »Tarifverträge und Tarifflucht in Bayern« des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt jedoch, dass die Situation für bayerische Arbeitnehmer wenige Monate vor der Landtagswahl bei weitem nicht so rosig ist, wie es Seehofer und seine Partei gerne darstellen.

Gerade einmal 53 Prozent der Beschäftigten im Freistaat werden noch durch einen Tarifvertrag geschützt. Bayern bildet damit das Schlusslicht der westdeutschen Bundesländer, die im Durchschnitt eine Tarifbindung von 59 Prozent aufweisen. Nur in den ostdeutschen Bundesländern liegt diese noch niedriger. »Die Tarifbindung in Bayern ist im Vergleich zu den anderen westdeutschen Bundesländern in den letzten Jahren besonders stark zurückgegangen«, so die Autoren der WSI-Studie, Thorsten Schulten, Malte Lübker und Reinhard Bispinck. »Während seit den 1990er Jahren die Tarifbindung in ganz Deutschland eine rückläufige Tendenz aufweist, war dieser Trend in Bayern zuletzt besonders ausgeprägt.« So lag die Tarifbindung unter den Beschäftigten 1995 in Bayern noch bei 83 Prozent und damit genau im Durchschnitt der übrigen westdeutschen Bun­desländer. Die Sonderstellung Bayerns zeigt sich nicht nur bei der Tarifbindung der Beschäftigten, sondern auch beim Anteil der tarifgebundenen Betriebe. Während im Jahr 1995 sowohl in Bayern als auch in den anderen westlichen Bundesländern drei von fünf Betrieben tarifgebunden waren, ist es heutzutage nur noch jeder vierte bayerische Betrieb – verglichen mit jedem dritten in den anderen westdeutschen Bundesländern.

Beschäftigte in nicht tarifgebundenen Unternehmen verdienen neun Prozent weniger als Arbeit­nehmer in Betrieben mit Tarif­vertrag. Außer­dem arbeiten sie durchschnitt-lich eine Stunde länger.

Bei genauerer Betrachtung zeigen sich große Unterschiede in den verschiedenen Branchen. So reicht die Tarifbindung der Beschäftigten in Bayern von 21 Prozent im Gastgewerbe und 28 Prozent im Einzelhandel bis zu 100 Prozent in den öffentlichen Verwaltungen, in denen sämtliche Beschäf­tigte tariflichen Regelungen unterliegen.

Im Einzelhandel hat sich die Tarifstruktur in den vergangenen Jahrzehnten in ganz Deutschland grundlegend verändert. Noch bis Ende der neunziger Jahre hatte eine bis dato gemeinsam von Arbeitgebern und Gewerkschaften befürwortete Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) dafür gesorgt, dass die große Mehrheit der Einzelhandelsunternehmen in den Geltungsbereich eines Tarifvertrags fiel. Auch in Bayern wurden bis 1998 die Lohn- und Ge­haltstarifverträge des Einzelhandels regelmäßig für allgemeinverbindlich erklärt und waren so für die Mehrzahl der Beschäftigten im bayerischen Einzelhandel gültig. Dann entschieden sich die Arbeitgeberverbände im Einzelhandel jedoch dafür, sogenannte OT-Mitgliedschaften (OT: ohne Tarifbindung) einzuführen. Damit war eine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband möglich, ohne sich an die von diesem ausgehandelten Tarifvereinbarun­gen halten zu müssen. Die AVE lief diesem Modell zuwider und wurde von den Unternehmensverbänden immer stärker abgelehnt. Mit dem Wegfall der AVE kam es zu einer massenhaften Tarifflucht im Einzelhandel, in deren Folge die Tarifbindung sehr stark zurück­ging. Diese Entwicklung ist im Freistaat besonders ausgeprägt. Die Tarifbindung ist dort sogar etwas niedriger als in Ostdeutschland. Während in Bayern 28 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel unter den Schutz von Tarifverträgen fallen, sind es im westdeutschen Durchschnitt 44 Prozent.

 

Auch im Gastgewerbe liegt die Tarifbindung in Bayern weit unter dem Niveau der anderen westdeutschen Bundesländer. Wegen der Dominanz von Kleinbetrieben ohne starke Interessenvertretungen, der hohen Personalfluktuation und der prekären Beschäftigungsstruktur in der Branche – knapp die Hälfte der 375 000 Beschäftigungsverhältnisse im bayerischen Gastgewerbe sind Minijobs – ist die Branche für Tarifverhandlungen traditionell ein schwieriger Sektor. Der­zeit unterliegt in Bayern gerade noch jeder fünfte Beschäftigte einem Tarifvertrag. Im westdeutschen Schnitt sind es doppelt so viele und selbst in Ostdeutschland ist die Tarifbindung im Gastgewerbe höher als im Freistaat.

Doch nicht nur Beschäftigte im prekären Dienstleistungsbereich sind von der Erosion der Tarifbindung betroffen. Auch im Sozial- und Gesundheitswesen, in der Bauindustrie und im Verkehrs- und Logistiksektor sind nur noch etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst und selbst in den klassischen Indus­trie­branchen der Produktions-, Investitions- und Gebrauchsgüter sank die Tarifbindung in den vergangenen Jahren rapide. Eine der Ursachen sehen die Forscher des WSI in den OT-Mitglied­schaften der Arbeitgeberverbände vieler Branchen. So seien etwa beim bayerischen Metallarbeitgeberverband tariflose Mitgliedschaften weitaus häu­figer als in anderen Bundesländern.

Für die Betroffenen macht sich die sinkende Tarifbindung bei den Löhnen und den Arbeitsbedingungen negativ bemerkbar. »Beschäftigte in Betrieben ohne Tarifvertrag leben in einem ständigen Zustand der Verunsicherung. Denn der Arbeitgeber bestimmt Arbeitszeit und Gehalt willkürlich. Daher arbeiten die Beschäftigten dort länger und verdienen zugleich deutlich weniger als Beschäftigte in Betrieben mit Tarifvertrag«, sagte Matthias Jena, der Vorsitzende des DGB Bayern, anlässlich der Vorstellung der Studie. Neun Prozent weniger als Arbeitnehmer in ­Betrieben mit Tarifvertrag verdienen dem WSI-Bericht zufolge Beschäftigte in nicht tarifgebundenen Unternehmen. Außerdem arbeiten sie durchschnittlich eine Stunde länger.

Die Verantwortung für die Tarifflucht sehen die bayerischen Gewerkschaften sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei der CSU-Staats­regierung, wie die Landesregierung in Bayern heißt. Die großen Wirtschaftsverbände hätten mit der Einführung von OT-Mitgliedschaften die Tarifflucht über Jahre systematisch gefördert. Zudem wurde das bayerische Tariftreue- und Vergabegesetz, das die Vergabe öffentlicher Aufträge an die Einhaltung tariflicher Standards knüpft, 2009 abgeschafft. Derzeit sind Bayern und Sachsen die einzigen Bundesländer, in denen es keine Regelungen zur Einhaltung von Tarifverträgen bei Aufträgen der öffentlichen Hand gibt.
»Es kann nicht sein, dass die Staats­regierung Tarifflucht fördert, indem staatliche Aufträge prinzipiell immer an den bil­ligsten Anbieter vergeben werden«, kritisiert Jena und fordert von der Staatsregierung, »die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu erleichtern und endlich ein bayerisches Tariftreue- und Vergabegesetz auf den Weg zu bringen«.

Die Vorstellung des Berichts fällt kurz vor den Beginn des bayerischen Landtagswahlkampfs. Die Gewerkschaften wollen so die Arbeits- und Lohnbedingungen in Bayern ins ­Zentrum der Debatte rücken und den Druck auf die Staatsregierung erhöhen.