Wie aus Sahra Wagenknecht eine Aufsteherin für Nation und Marktwirtschaft wurde

Die Stubenhockerin der Nation

Früher forderte Sahra Wagenknecht die »Aufnahme der zu uns kommenden Armen« und die »Abstimmung der Linken über nationale Grenzen hinweg«. Heutzutage empfiehlt sie für alles die nationale Lösung. Aus Sahra Wagenknecht wurde eine Aufsteherin für Vaterland und Marktwirtschaft.

Zur Jahrtausendwende war’s, da erzählte Sahra Wagenknecht der Wochenzeitung Die Zeit von einer Begegnung. Ein junger Mann aus der Zukunft habe ihr die utopischen Zustände in der kommenden sozialistischen Gesellschaft geschildert. Nationalstaaten und Grenzen seien da bedeutungslos geworden, es herrsche volle Freizügigkeit für alle. Und er habe gemahnt: »Ich finde es übrigens grauenhaft, wie man in Ihrer Zeit Menschen drangsaliert, indem man ihnen vorschreibt, wo sie sich aufhalten dürfen und wo nicht.«

Heutzutage würde die Begegnung wohl mit einer Verstimmung enden. Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag und Gründerin der sich selbst als »Sammlungsbewegung« bezeichnenden Organisation »Aufstehen«, hält den Nationalstaat inzwischen für unverzichtbar. Die Nationalisierung von Ökonomie, Politik und Kultur erscheint ihr als Heilmittel für die Krisen der Gegenwart. Ganz anders war es früher: Da hielt sie eine »Abstimmung der Linken über nationale Grenzen hinweg« noch für »existentiell« und glaubte, »im nationalen Rahmen allein« lasse sich »nichts mehr bewegen«. Einst sagte sie: »Aufnahme der zu uns kommenden Armen ist doch das Geringste, was man von einem Hauptverursacher dieser Armut erwarten kann.« Heutzutage kritisiert sie Angela Merkel wegen der Aufnahme von Flüchtlingen und plädiert für die Abschiebung unerwünschter »Arbeitsmigranten«.

Politischer Leitbegriff Wagenknechts war immer das »Volk«, jenes Wort also, dessen Bedeutung sich so verführerisch leicht vom Plebejischen ins Nationale verschieben lässt.

Aber nicht nur Wagenknechts nationale Antworten auf alle Fragen ver­stören frühere Genossen. In ihren in den vergangenen Jahren erschienenen Büchern bemüht sie sich, »fairen Marktwirtschaftlern« nicht mehr als »finstere Kommunistin« zu erscheinen. Den sogenannten Mittelstand umwirbt sie mit der Aussicht auf eine Gesellschaft, in der es »selbstverständlich immer noch Ungleichheit« gehe, »mehr Wettbewerb, nicht weniger« herrsche und das Recht gewitzter Unternehmer, »sehr reich zu werden«, unangetastet bliebe. Die ehemalige Wortführerin der »Kommunistischen Plattform« in der PDS meidet inzwischen sogar das Wort »Sozialismus« zur Selbstbeschreibung.

Was ist geschehen mit Sahra Wagenknecht? Ein Blick in die Schriften, in denen sie über die Jahre ihr Programm entwickelt hat, kann zur Aufklärung beitragen. Dem Leser fällt ein Widerspruch auf, der von Beginn an ihr Werk durchzieht. In ökonomischen Fragen war die Politikerin bereits in ihrer frühesten Phase eine reformerische Marktsozialistin. Schon als sie von der goldenen Ära des Sozialismus unter Walter Ulbricht schwärmte, galt ihr Lob dem Versuch, in begrenztem Maße Wettbewerb, Leistungsprinzip und Privatkapital in der DDR zu nutzen. Wagenknechts Volte, den Sozialismus nicht als Gegenteil der liberalen Marktwirtschaft, sondern als dessen echte Verwirklichung zu propagieren, war hier schon angelegt. Im Feld des Poli­tischen zeigte sich Wagenknecht hingegen von Anfang an als resolute, bisweilen bornierte Gegnerin jeder Form von »Opportunismus« und »Revisionismus«. Ihre einzige politische Strategie war stets die Fundamentalopposi­tion. Im Rückblick scheint es, als hätte diese politische Härte auch den Zweck gehabt, ihre ökonomische Nachgiebigkeit zu überspielen.

Politischer Leitbegriff Wagenknechts war immer das »Volk«, jenes Wort also, dessen Bedeutung sich so verführerisch leicht vom Plebejischen ins Nationale verschieben lässt. Zwar sprach sie anfangs noch häufig über Klassenkämpfe, doch ging es dabei vor allem um Konflikte zwischen Staaten und Staatenblöcken. Die Begriffe »Ost« und »West« dienten als Synonyme für Kommunismus und Kapitalismus. Der »Systemgegensatz« zum Kapitalismus sollte nach Wagenknecht dabei »unversöhnlich« sein – ein Freund-Feind-Denken, das nie zu ihrer Kompromissbereitschaft im ökonomischen Bereich passte und eher an nationalistische Muster erinnert.

Es waren die Öffnung einer Grenze und das Ende eines Nationalstaats, die 1989 zum traumatischen Erlebnis ihrer Jugend wurden: »Jemand rief mich freudetrunken an, die Grenzen seien offen – ich war ­erledigt für den Rest des Tages.« Nicht nur das Scheitern des Sozialismus betrübte Wagenknecht. Das frühe Pamphlet »Unter Fremdverwaltung« zeigt, wie sehr sie den Mauerfall auch als Verlust von Heimat erlebte, verursacht »durch eine ausländische bürgerliche Macht«. Der Realsozialismus war ihrer Ansicht nach gescheitert, weil es die laschen Nachfolger Stalins versäumt hatten, den Ostblock gegen Kapital, Besucher und Ideen aus dem Westen abzuschotten.

 

Die offenen Grenzen reizten Wagenknecht damals nicht: »Aber Reisefreiheit an sich bedeutet mir nichts. Irgendeine imperialistische Metropole inter­essiert mich halt nicht.« Diese sozialistisch verbrämte Stubenhockerei rechtfertigte sie auch mit plattem Antiamerikanismus: »Man sitzt überall auf der Welt in der gleichen McDonald’s-Kneipe, und auch die Gesichter derer, die da drin sitzen, werden einander immer ähnlicher.« Auf die Idee, Mc­Do­nald’s betreibe Kneipen, konnte wohl nur eine Person kommen, die sich zwar bereits eine Weltanschauung zugelegt, die Welt aber noch nicht selbst angeschaut hatte. Anders als für Sozialisten wie Karl Marx oder Rosa Luxemburg war für Wagenknecht der Internationalismus nie eine lebendige Erfahrung. Auch ihre späteren Jahre als Europaabgeordnete haben ihren früh ausgeprägten Hass gegen die »imperialistische Propagandavision« der »Vereinigten Staaten von Europa« nur verfestigt.

Niemandem ist aus seiner Herkunft ein Vorwurf zu machen. Unübersehbar sind aber die Verluste, die aus der Unfähigkeit Wagenknechts resultieren, ihre Ostzonenbeschränktheit kritisch zu reflektieren. Stets hat sie die »ostdeutsche Identität« nur als »potentiell antikapitalistisch« gefeiert. Autoritarismus und Rassismus unter Ostdeutschen erklärt sie aus kapitalistischer Verelendung, so als hätte die deutsche Ideologie nicht auch in der DDR gut überlebt, gerade weil das Land autoritär regiert und von der Welt abgeschirmt wurde. Es ist kein Zufall, dass Wagenknecht unter rechten Wutbürgern im Osten Sympathien genießt. Nichts treibt diese stärker an als das Gefühl, zuerst von westdeutschen, dann von ausländischen Invasoren überrannt worden zu sein.

Wie heutzutage die deutschen Grenzen, so rechtfertigte Wagenknecht einst die Berliner Mauer als »notwendiges Übel«: »Gezielt wurden bestimmte Berufsgruppen abgeworben: Ärzte, Akademiker, Spezialisten, die bei uns eine teure Ausbildung bekommen hatten … So ein Ausbluten kann sich keine Volkswirtschaft auf Dauer leisten.« Das »Ausbluten« verweist auf die Metapher des Volkskörpers, in dem das Individuum als Teil dem organischen Ganzen funktional untergeordnet wird. Auch die von Wagenknecht in der derzeitigen Migrationsdebatte hallu­zinierten »Ärzte aus dem Niger« haben demnach aus volkswirtschaftlichen Gründen kein Recht, über ihr eigenes Leben und ihren Aufenthaltsort zu ­bestimmen. Die Politikerin fordert die zwangsweise Unterwerfung der Ein­zelnen unter die Interessen von Nationalstaaten. Ärzte im Niger, bleibt eurer Scholle treu? Wo ist hier noch ein Unterschied zum Spruch des FDP-Posterboys Christian Lindner, niemand habe das Recht, sich seinen Standort auf der Welt auszusuchen?

Schon früh zeigten sich bei Wagenknecht neben scharfer Kritik an der bundesdeutschen Gesellschaft auch Sehnsucht nach Heimat: »Freiheit ist nicht möglich ohne Identität.« Den Staat hielt sie überdies immer für unverzichtbar angesichts seiner »vermittelnden Rolle« beim Ausgleich von »Klasseninteressen«. Das Heimweh dürfte nun ein Ende finden im Frieden mit Deutschland. Dieser Versöhnung ist es zuträglich, dass Wagenknecht als Verursacher allen Übels Fremde ausmacht, eine kleine, internationale Clique von »Superreichen« und »Spekulanten«, die hinter den Kulissen alle Fäden in Weltwirtschaft und Politik zieht. In ihrem Buch »Reichtum ohne Gier« garniert sie ihre Kritik an der »Finanzlobby« mit dem Hinweis auf die Familie Rothschild als Prototyp der »Brunnenvergifter« – so funktionieren antisemitische Verschwörungstheorien.

»Da die soziale Integration der Arbeiterklasse nicht mehr machbar ist, spricht einiges dafür, die nationalistische wieder zu versuchen.« Hat Wagenknecht diese vor langem ausgesprochene Warnung aus eigenem Munde inzwischen zu ihrer Maxime erhoben? Ihre Appelle richten sich mittlerweile jedenfalls eher an die Deutschen aller Klassen als an die Proletarier aller Länder.