Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erlaubt es, religiöse Gefühle über die Meinungsfreiheit zu stellen

Bloß keine Gefühle verletzen

Wer den Propheten Mohammed pädophil nennt, kann bestraft werden. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Religionskritiker sehen die Redefreiheit bedroht.

Kennen Sie den? Die Ehefrau des Propheten Mohammed stürmt wütend in dessen Zimmer. Sie will ihn zur Rede stellen und sagt: »Du bist pervers.« Dieser entgegnet kühl: »Das sind große Worte für eine Sechsjährige.«

Witzeleien und Äußerungen zu den erotischen Vorlieben von Religionsgründern aus der Spätantike stehen für gewöhnlich nicht im Zentrum der Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.

In seinem Urteil vom 25. Oktober musste sich das Gericht jedoch zur Meinungsfreiheit und zu verletzten religiösen Gefühlen verhalten.

Das war geschehen: Eine Österreicherin hielt 2009 bei zwei von der rechtsextremen FPÖ ­organisierten Bildungsseminaren einen Vortrag über den Islam. In ihrem Referat sagte sie über die Eheschließung Mohammeds mit der nach Angaben der autoritativen islamischen Quellen sechs- oder siebenjäh­rigen Aisha – beim »Vollzug der Ehe« soll sie neun oder zehn Jahre alt ge­wesen sein –, der ­Prophet »hatte nun mal gerne mit Kindern ein bisschen was«. Weiter fragte sie: »Ein 56jähriger und eine Sechsjährige (…) Wie nennen wir das, wenn es nicht Pädophilie ist?« 2011 wurde sie von einem Wiener Gericht deswegen zu ­einer Geldstrafe von 480 Euro und der Erstattung der Prozesskosten verurteilt. Der Vorwurf: »Herabwürdigung religiöser Lehren«, ein Tatbestand im österreichischen Strafrecht. Der »religiöse Frieden« sei durch diese Aussagen gestört worden. Die Frau sah sich in ihrer Meinungsfreiheit verletzt, ging durch alle österreichischen Instanzen und zog schließlich vor den EGMR.

Als Beispiel für eine vermeintlich proislamische Haltung des EGMR taugt der Fall nur bedingt.

Der entschied nun, dass die Verurteilung statthaft war. Zwar gab das Gericht der Klägerin recht, dass Religions­gemeinschaften sachlich begründete Kritik aushalten müssten. Die Religionsfreiheit schütze davor nicht. Doch nicht der reine Inhalt oder der unmittelbare Kontext einer Aussage bestimmten darüber, ob diese von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, schrieben die Richter in ihrer Urteilsbegründung. Wer sich in eine aufgeheizte Debatte einschalte, müsse bedenken, was er damit bewirken könnte. Das Gericht bezog sich in seinem Urteil vor allem auf die Aussage, dass Mohammed pädophile Neigungen gehabt habe. Die Beschwerdeführerin unterstelle damit, Mohammed sei es nicht wert, religiös verehrt zu werden. Das könne Empörung aus­lösen, denn Pädophilie sei gesellschaftlich geächtet. Die Beschwerdeführerin hätte beachten müssen, dass Mohammeds Ehe mit Aisha bis zum Tod des Propheten und somit nach deren Pubertät angedauert habe. Die Schlussfolgerung des EGMR: Ein primäres sexuelles Interesse an Kindern könne bei Mohammed nicht festgestellt werden.

Ekmeleddin İhsanoğlu, ehemaliger Generalsekretär der Organisation für ­Islamische Zusammenarbeit (OIC), begrüßte das Urteil. Der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu sagte er: »Der Kampf gegen Islamophobie und die Auffassungen, die wir seit Jahren vertreten, wurden vom EGMR angenommen. Das Urteil ist in allen Aspekten erfreulich.« Die OIC ist ein Block aus 57 mehrheitlich muslimischen Staaten mit Sitz im saudi-arabischen Jeddah.

Auf UN-Ebene setzt sie sich für nicht bindende Resolutionen ein, die Blasphemie ächten und verbieten sollen.

Die Internationale Humanistische und Ethische Union (IHEU) beschreibt sich selbst als repräsentative Dachorganisation der Humanistischen Bewegung. Ihr Direktor, Gary McLelland, schrieb auf ihrer Homepage, das ­Gericht zeige eine »zunehmde Zaghaftigkeit bei grundlegenden Fragen der Redefreiheit. Angesichts der nationalistischen und populistischen Welle in Europa ist es verständlich, dass viele die Auseinandersetzung mit diesen schwierigen Fragen meiden wollen. Aber eine Einschränkung der Meinungsfreiheit läuft Gefahr, die Stimmen der Paranoiden zu legitimieren und eine ›Tabukultur‹ zu schaffen.«

Maajid Nawaz ist Gründer von Quilli­am. Die Organisation setzt sich gegen Extremismus in der muslimischen Gemeinde Großbritanniens ein. »Das Urteil ist antimuslimisch. Im Namen des ›Friedens‹ verstärkt es das Blasphemieverbot (aber nur im Islam)«, kritisierte Nawaz auf Twitter. Das Urteil basiere auf einer »Bigotterie der geringen Erwartungen« gegenüber Muslimen. Die Frauenrechtlerin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali sprach ebenfalls auf Twitter vom »widerlichsten, barbarischsten Urteil unserer Zeit«. Für Muslime und Nicht-Muslime, die sich für Meinungsfreiheit einsetzen, sei dies ein Rückschlag. »Kein Wunder, dass die Bürger Europas ihren Glauben an Institutionen wie diese verloren haben.«

 

Offen bleibt, ob das Urteil über seine symbolische Kraft hinaus zur Krimina­lisierung von Kritik an Mohammed und dem Islam beitragen wird. Die Mitgliedsstaaten des Europarats sind dazu verpflichtet, sich der Rechtsprechung des EGMR zu unterwerfen. In ihrer Begründung stellten die Straßburger Richter klar: Geprüft wurde in erster Linie, ob die Bestrafung der Beschwerdeführerin erstens auf vorhandenen Gesetzen basierte und zweitens der Zweck des Gesetzes (Wahrung des »religiösen Friedens«) legitim ist. Die Richter bejahten beides. Doch bei der Frage, ob und in welchem Ausmaß die Staaten des Europarats Bürger zur Verantwortung ziehen müssen, die Mohammed einen Pädophilen nennen, ließ der EGMR einen weiten Spielraum. Die Wahrung des »religiösen Friedens« sei eine sensible ­nationale Angelegenheit. Wann dieser Frieden gestört ist, könnten die Staaten selbst am besten beurteilen. So betrifft das Urteil in erster Linie Länder, die Straftatbestände wie die Herabsetzung religiöser Lehren oder Blasphemie kennen. Neben Österreich sind dies etwa Deutschland, Russland, Polen und die Türkei. Unter anderem Island, das Vereinigte ­Königreich (außer Schottland und Nordirland), Malta und Irland haben ihre Blasphemieparagraphen aus dem Gesetz gestrichen.

Als Beispiel für eine vermeintlich proislamische Haltung des EGMR taugt der Fall nur bedingt. So beschied das Gericht vergangenes Jahr trotz Empörung von antirassistischen Aktivisten und muslimischen Vertretern, dass die in einigen europäischen Ländern eingeführten Verbote der Vollverschleierung mit den Menschenrechten in Einklang stehen. Wahr ist aber auch: Frühere Entscheidungen zu Fragen der Blasphemie, die beim EGMR landeten, fielen religionsfreundlich aus. Der britische Regisseur Nigel Wingrove konnte seinen 1989 fertiggestellten Film »Visions of Ecstasy« nicht als Video vertreiben, weil er von den Behörden das nötige Zertifikat nicht erhalten hatte. Grund war der damals in Großbritannien noch geltende Blasphemieparagraph. Als blasphemisch wurden unter anderem die Darstellungen von St. Teresa von Ávila qualifiziert, die im Film als lesbische Masochistin porträtiert wird.

In der Türkei wurde 1993 ein Buch des Schrifstellers Abdullah Rıza Ergüven verboten, weil es die religiösen Muslime in der Türkei beleidige. Im betreffenden Werk werde unter anderem suggeriert, Mohammed habe sich durch den Sex mit Aisha zu einigen Koranpassagen inspirieren lassen. Ergüvens Verleger wurde deshalb zu einer Geldstrafe verurteilt. In beiden Fällen bekräftigte der EGMR das Recht Großbritanniens und der Türkei, die Meinungsfreiheit ein­zuschränken, wenn religiöse Gefühle verletzt werden. Doch auch damals betonten die Richter, dass bei der Abwägung von Redefreiheit und Befindlichkeiten in der Bevölkerung den Staaten ein weiter Ermessensspielraum zustehe.

Das Beispiel des Vereinigten Königreichs zeigt: Staaten können auf die Urteile des EGMR auch reagieren, indem sie den Straftatbestand der Blasphemie einfach abschaffen. Die Beschwerdeführerin hat drei Monate Zeit, die jüngste Straßburger Entscheidung anzufechten, und den Rest ihres Lebens, um sich in Österreich für die Streichung ­eines Paragraphen einzusetzen, der es ihr verbietet, religiöse Lehren zu verunglimpfen.