1989, Berlin: zwischen Niemandsland und urbaner Utopie

Das Ende und der Anfang

Das Jahr 1989 steht nicht nur für Mauerfall und Techno, sondern auch für eine urbane Utopie mit neuen technischen Möglichkeiten. In Berlin bildeten selbstorganisierte Clubs eine lebhafte Kunst- und Musikszene.

Die Wohnung hat eine freundliche ­Atmosphäre, sogar der Fußboden ist warm, sie ist großzügig geschnitten, mutet ein bisschen wie eine Fabriketage oder ein Salon an, mitten in Kreuzberg. Es ist Anfang Dezember. Schräg gegenüber, vor der Markthalle, sitzen vereinzelt Leute im Freien, nippen an Tassen, telefonieren, tippen, rauchen, quatschen. Eine gute Ecke von Berlin, hier wohnt und arbeitet Kay Itting. Wir sitzen bei ihm zu Hause. Es gibt Croissants, Milchkaffee, Mandarinen, ein paar Bücher liegen vor uns auf dem Tisch. Wir reden über Technologie und Techno und darüber, wie es war, als wir, die wir schon seit frühesten ­Jugendtagen befreundet sind, uns immer wieder mal für längere Zeit aus den Augen verloren haben.

1989 zum Beispiel. Da ging er auf Reisen, nach Südamerika. Vom Mauerfall erfuhr er nebenbei, im Flugzeug sitzend, durch einen Artikel in der Financial Times. Als er zurückkam nach München, war es dort zu eng geworden. Er war der erste aus meinem Umfeld, der ständig nach Berlin fuhr, bis er irgendwann dortblieb. Eine seiner ersten Adressen war ein leerstehendes Haus in Berlin-Mitte.

Elektronische Musik war dabei nicht das eine große Ding, als das sie rück­blickend erscheinen mag, sondern Teil der Geschichte – wenn auch ein wesentlicher.

»Der erste Winter war schlimm«, erzählt er. »Es war unglaublich kalt in meinem Zimmer, und ich hatte immer nur einen Zwanzigmarkschein. Den hab ich verdient, wenn ich in einem Club eine Super-8-Projektion gemacht oder Platten aufgelegt habe. Das Geld reichte, um ein Stück Hasch oder Kohle zum Heizen zu kaufen. Ich hab mich meistens gegen Kohle entschieden. Da saß ich also, unter einer riesigen Fell­decke für den Computer, den Monitor und für mich. Der Computer war ein Amiga, mit dem hab ich Animationen gemacht und alles Mögliche ausprobiert, es musste eben warm genug sein, damit er auf Betriebstemperatur kommt.«

Ein Freak unter einer Felldecke, der im Winter 1989/90 trotz ungünstiger äußerer Umstände an einem Projekt forscht, von dem nur einige wenige Eingeweihte überhaupt wissen. Der Freak ist jung und hat bereits viel gesehen, aber vieles gefällt ihm nicht. Er lebte im Dorf, war abgeschnitten von allem und filmte stundenlang ein ­Kaminfeuer. Er lebte in der Stadt, und die Verhältnisse würden sich nie ändern, Fernsehen war Fernsehen, und die einzigen Rebellen, die er kannte, trugen Schwarz und würden bis ans Ende der Tage unter sich bleiben.

Berlin, das urbane Niemandsland, erwies sich als ideal für einen Aufbruch ins Unbekannte. Kay hatte die Jahre zuvor Ideen aufgesogen, die ein beständiges Flirren in ihm erzeugten. Sie stammten aus William Gibsons »Neuromancer«, aus Romanen von William S. Burroughs, vor allem aber aus zwei praxisorentierten Handbüchern: »Die Hackerbibel« des Chaos Computer Club von 1985, und »A Whole Earth Catalog. Signal. Communication Tools for the Information Age« von Kevin Kelly. Dort heißt es auf der letzten Seite: »Only Connect.« Genau darum würde es in Zukunft gehen: neue Verbindungen herzustellen.

Einen neuen Space zu öffnen. Den Cyberspace. Die Utopie war es, mit jedem Menschen auf der Welt jederzeit kommunizieren zu können. Und das würde nur möglich sein mit neuen Maschinen, Computern eben. Auch mit den Maschinen würde man sich verbinden, würde lernen müssen, sie zu bedienen und zu programmieren, und auf einmal wäre alles möglich: Texte zu produzieren und in die Welt zu schicken. Bilder und Filme zu ­kreieren. Musik zu produzieren. Einzudringen in fremde Systeme, weil man es kann.

Und sich darüber mit denen austauschen, die irgendwo auf ­diesem ­Planeten auf der selben Welle unterwegs sind. »Mit dem Move nach Berlin 1989«, sagt Kay, »haben sich Sehnsüchte erfüllt, ohne dass du es gemerkt hast. Wir haben Kunst produziert und davon gelebt. Es gab eine Community mit ­einer eigenen Ökonomie. Das ­Leben hat in unserem eigenen Kosmos stattgefunden: Du verdientest dein Geld im Club und gabst es in den Clubs, Cafés und Läden drumherum wieder aus. Es war eine counter culture, mit sehr ­vielen Orten, an denen kreative Dinge passierten und sich ständig neue ­Leute ­zusammenfanden.

Dabei ging es nie ums Geld. Wir wollten nicht in die ­Galerien. Mit dem System wollten wir nichts zu tun haben. Wir dachten, es ist ein sterbendes System. Die interessanten Leute waren in den Clubs.«

 

Dazu gehörten Läden wie das Berliner Fischlabor, das Ufo oder das Planet und kreative Köpfe wie Elsa Wormeck, Hans-Otto Richter oder der später als godfather der Videoanimation berühmt gewordene Peter Rubin. Auch der 2011 verstorbene Ralf Regitz zählte zu den prägenden Persönlichkeiten, einer, der die Dinge zusammengedacht hatte, den Sound, die Kunst, das Digitale. Als Kay ihm zum ersten Mal begegnete, hatte Regitz wie üblich Brandy getrunken, das Glas in kleine Stücke zerbrochen und die Scherben aufgehäuft. In jenen Tagen gab es in dessen Wohnung die Space Agency, eine Mischung aus Privatbar, Minirestaurant und Kunstclub, in der sich der Underground der achtziger Jahre mit dem verband, was neu in der Stadt aufkam und noch namenlos war. Hier lief auf Monitoren MTV in Dauerschleife, ohne Ton, und später, zur Zeit des ersten Golfkriegs, CNN.

Die Fragen, die über allem unausgesprochen schwebten, waren: In welcher Gesellschaft werden wir leben? Wie wird die Zukunft aussehen? Und die Antwort lautete: Wir bauen das global village. Wir fangen schon mal an.

Elektronische Musik war dabei nicht das eine große Ding, als das sie rück­blickend erscheinen mag, sondern Teil der Geschichte – wenn auch ein wesentlicher: »Es ist erstmal Musik ohne Worte«, sagt Kay. »Es gibt keine Sprache. Es gibt keinen Gesang. Es gibt nur künstlich generierte Töne. Und die wiederholen sich ständig. Denn es geht auch um Trance: Die Clubs sind dunkel. Dann wird auch noch Nebel reingepumpt. Später kommen Bilder dazu, Videobilder. Gesellschaft, Tiere, Krieg, Nachrichten, Trash. Alle möglichen abstrakten Formen.«

Neu sei dabei gewesen, dass der DJ zum ersten Mal nicht mehr auf einer Kanzel, sondern auf dem Dance­floor, auf gleicher Höhe wie die anderen, in ­einer dunklen Ecke stand und nur ein Arbeitslicht hatte. Der DJ war der ­Gegenentwurf zum Popstar. Was auch damit zusammenhing, dass niemand mehr ein Studio oder eine Band brauchte. Ein Computer reichte aus, um selbst Musik produzieren zu können.

Clubkultur funktionierte wie eine riesige Projektionsfläche. Und war gleichzeitig die Wirklichkeit, die hier und jetzt stattfand und veränderbar war. Mit Modem und Akustikkoppler in einen fremden Rechner zu gelangen, also in ein paralleles Universum einzutreten, um sich mit jemandem auszutauschen – das war das eine. Das andere aber war, dass diese Parallelwelt plötzlich ein Space sein konnte, in dem das in einsamen Nächten Programmierte für alle erlebbar wurde. Niemand begriff zu der Zeit, dass 1989 einmal ein historisches Jahr werden würde. Die Sowjetunion – verschwunden, der Kalte Krieg – zu Ende, Europa – vor einem Neustart. Und aus dem einsetzenden Internethype würde, auch das ahnte niemand, ein neues, das ­digitale Zeitalter erwachsen. Die Fragen, die über allem unausgesprochen schwebten, waren: In welcher Gesellschaft werden wir leben? Wie wird die Zukunft aussehen? Und die Antwort lautete: Wir bauen das global village. Wir fangen schon mal an. Alles wird gut. Kay gehörte zu den zahllosen Pionieren der Stadt. Für einen wie ihn zählte ein Videomixer mit der Bezeichnung MX 50 – mit dem man Bilder übereinanderlegen konnte – genauso viel wie ein Morgen an der Spree, nach einer Nacht im Planet. Die Sonne ging auf und man hörte noch, wie die Bässe durch das Blechdach schepperten. 1989 war ein magisches Jahr. Ein Jahr des Aufbruchs, der neuen Allianzen, des freien Tuns, des wilden Programmierens und Forschens. Es dauerte vielleicht drei Jahre. Und es ging zu Ende, als Turnschuh- und Zigarettenfirmen ein Phänomen entdeckten, das sie Techno nannten, ohne zu wissen, was da gerade passiert. Dass es wiederkehrt, ist nicht anzunehmen. Ein anderes wird folgen, wann genau, wer weiß das schon.