Seyran Ateş im Gespräch über deutsche Islamverbände, Integration und die Linke

»Ich bin zutiefst enttäuscht von den Linken und Linksliberalen«

Interview Von Till Schmidt

Die Autorin, Rechtsanwältin und Gründerin einer liberalen Moschee, Seyran Ateş, setzt sich für einen demokratischen Islam ein und möchte die Vernetzung liberaler Muslime in Europa verbessern. Die Moscheen in Deutschland sollten ihrer Meinung nach von islamistischen Regierungen und Organisationen unabhängiger werden. Von der Linken fühlt sie sich im Stich gelassen.

Bereits vor zehn Jahren haben Sie ein Buch veröffentlicht, das vorherrschende Vorstellungen vom multikulturellen Zusammen­leben kritisiert. Worin genau liegt für Sie der »Multikulti-Irrtum«?
Unter »Multikulti-Irrtum« verstehe ich die falsche Annahme, dass verschiedene ethnisch-kulturelle Gruppen friedlich koexistieren können, wenn sie jeweils nach ihren eigenen Werte- und Normvorstellungen ­leben. In meinem Buch habe ich damals beschrieben, wie problematisch ein solches Konzept von Zusammenleben ist. Individuen sollen demnach nicht nach den Werten der Menschenrechte leben, sondern ­bleiben stets in ihrem kulturellen Kollektiv gefangen. Sie orientieren sich dann daran, was das Kollektiv von ­ihnen verlangt – ohne einen eigenen Weg einschlagen zu können. Konflikte sind dabei programmiert, weil Individualrecht und Kollektivrecht miteinander in Konflikt stehen und überhaupt bestimmte Wertvorstelllungen dem Grundgesetz widersprechen. Noch heute sind die negativen Auswirkungen dieser falschen Auffassung von Multikulturalismus ­unübersehbar.

Hat sich seither etwas zum Positiven verändert?
Ja, zum Beispiel die Einstufung der Zwangsheirat als Straftatbestand, wofür viele Mitstreiter und ich lange und hart gerungen haben. Zugleich bestehen viele der im Buch beschriebenen Probleme fort. Nehmen wir etwa die Tabuisierung von Sexualität in einigen migrantischen Milieus: Nach wie vor ist es vielen muslimischen Mädchen nicht erlaubt, ein ­sexuell selbstbestimmtes Leben zu führen. Männer spielen die Sittenwächter und achten darauf, dass die rigiden Sexualvorstellungen ein­gehalten werden. Wer aus der Reihe tanzt, wird physisch und psychisch sanktioniert. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft und auch die Migrantengruppen sollten dieses Problem endlich energischer angehen. Stattdessen wird mir und meinen Mitstreitern, die dieses Problem öffentlich thematisieren, häufig schlicht Rassismus vorgeworfen.

»Die Debatte sollte differenziert geführt und nicht den Rändern der Gesellschaft überlassen werden. Die AfD und die FPÖ bedienen einen identitären Diskurs und heizen die gesellschaftliche Stimmung gegen Muslime auf. Sie tragen wenig bis gar nichts zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei, da ihre »Lösungen« nicht an den Menschenrechten, sondern viel eher am völkischen ­Nationalismus orientiert sind.«

Wie erklären Sie sich diese Vorwürfe?
Die Vorwürfe kommen in erster Linie von Linksliberalen, die sich pauschal schützend vor alle Migranten stellen. Deren Motive in allen Ehren – es wäre ratsam, Migranten als mündige Bürger zu betrachten, anstatt jede Kritik an kulturellen oder traditionellen Handlungen pauschal als Rassismus zu diffamieren. Beim Thema Religionsfreiheit sehe ich ein ähn­liches Problem: Im Zusammenhang mit staatlicher Neutralität argumentieren viele Linksliberale und auch religiösen Menschen sehr ­einseitig zugunsten des Grundrechts der Religionsfreiheit.

Inwiefern?
Indem etwa Staatsbedienstete ihre religiösen und weltanschaulichen Symbole nach außen hin tragen dürfen, gibt der Staat seine Neutralität in Religions- und Weltanschauungsfragen auf. Ein säkularer Staat ist aber weder christlich noch jüdisch oder atheistisch und auch nicht muslimisch. Das Verbot von religiösen und weltanschaulichen Sym­bolen gilt – beispielsweise nach dem Berliner Neutralitätsgesetz – daher für das christliche Kreuz, die jüdische Kippa sowie das muslimische Kopftuch gleichermaßen wie für Symbole einer Weltanschauung. In meinen Augen wäre nur eine religions- und weltanschauliche Neutralität die ­ideale Lösung für die Säkularität des Staats.

Sie kritisieren häufig die deutschen Islamverbände.
An den deutschen Islamverbänden kritisiere ich vor allem ihre Abhängigkeit vom Ausland. Das kann man ganz exemplarisch an der Ditib beobachten, die ja kaum als religiöse Glaubensgemeinschaft, sondern vielmehr als nationales Echo der türkischen Regierung in Deutschland auftritt. Meine Kritik richtet sich aber nicht nur an die Ditib, sondern auch an andere Islamverbände: also an den Zentralrat der Muslime und auch den Islamrat, die ebenfalls Strukturen des politischen Islam fest in ihren Reihen etabliert haben.

Lassen Sie uns beim Beispiel ­Ditib bleiben. Was genau kritisieren Sie?
Die Ditib wird gelenkt und finanziert von der türkischen Religionsbehörde Diyanet, und diese untersteht der türkischen Regierung. Die Satzung der Ditib ist diesbezüglich ein Beleg und Programm. Zudem muss man sich ja nur die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei anschauen und erkennen, was für eine demokratiefeindliche Politik die türkische ­Regierung dort betreibt. Auch dass die Imame der Ditib aus der Türkei gesendet und finanziert werden und obendrein kein Deutsch sprechen, die Kultur in Deutschland nicht kennen oder gar ablehnen, sollte uns viel stärker kritisch hinterfragen ­lassen, was überhaupt in den Ditib-­Moscheen gepredigt wird. Unter Erdoğan kann man eine zunehmende Abschottung von der deutschen ­Gesellschaft beobachten, es geht sehr viel um türkischen Nationalismus. Uns sollte außerdem nicht kalt lassen, wenn Kinder instrumentalisiert ­werden, etwa wenn der Märtyrertod in den Moscheen gespielt wird. ­Unbestritten ist auch, dass die Diyanet einen Comic herausbrachte, in dem sie den Märtyrertod verherrlichte.

Was halten Sie dem entgegen?
Um die Moscheen unabhängiger von Auslandseinflüssen zu machen, sollten wir über eine Art Moscheesteuer nachdenken. Allerdings bin ich strikt dagegen, wenn eine Moscheesteuer letzten Endes dazu führt, die Verbände zu Körperschaften des ­öffentlichen Rechts aufzuwerten. Dies darf nicht die Folge einer Moscheesteuer werden, da ihnen auf staatlicher Ebene mehr Vorteile zustünden. Dazu sind viele Verbände noch zu weit von den Werten des Grund­gesetzes entfernt, vor allem in Fragen der Gleichberechtigung der ­Geschlechter.

Angesichts der Stärke des politischen Islam in Deutschland ist es ­außerdem umso wichtiger, die Vernetzung von liberalen Muslimen in Europa – und am besten auch weltweit – voranzubringen. Wir treten ­dafür ein, die Religion im Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu praktizieren. Als Ibn-Rushd-Goethe-Moschee arbeiten wir deshalb im Moment mit anderen liberalen Einzelpersonen und Einrichtungen zusammen, so etwa mit Ludovic-Mohamed Zahed, einem homosexuellen Imam aus Marseille, mit dem irakischen LGBT-Aktivisten Ayaz Shalal oder mit der Sängerin Ani Zonneveld aus den USA. Daneben sind wir in kontinuierlichem Dialog mit anderen liberalen Gemeinden in der Schweiz, in Frankreich und in Dänemark. Ich bin optimistisch, dass das weltweite Netzwerk noch weiter wachsen wird.

Erhalten die liberalen Muslime aus ihrer Sicht ausreichend ­Gehör?
Nein. Der Islamdiskurs in Deutschland verbleibt leider häufig auf der symbolischen Ebene. Es wird dann gefragt, ob der Islam zu Deutschland gehört. Selbstverständlich muss hier zurückgefragt werden: Um welchen Islam geht es denn überhaupt? Denn ein Islamverständnis wie aus Ägypten, Saudi-Arabien oder auch aus dem Iran darf nie und nimmer zu Deutschland gehören, sondern eben nur ein Islam, der auch mit den Menschenrechten vereinbar ist. Die Debatte, die wir stattdessen führen sollten, sollte sich um reale Probleme drehen: um Fragen der Integration, um die problematische Finanzierung von Moscheen durch islamistische Regimes aus dem Ausland, ­Geschlechtergerechtigkeit oder um die weitverbreitete Ablehnung der Werte des Grundgesetzes.

Lässt sich aus Ihrer Sicht mit den Islamverbänden darüber überhaupt konstruktiv diskutieren?
Die muslimischen Dachverbände möchte ich bei einer Diskussion dieser Fragen keineswegs ausschließen. Ich wünsche mir, dass wir diese Probleme gemeinsam angehen und ­gegen extremistische Tendenzen innerhalb unserer Religion ankämpfen. Die Deutsche Islamkonferenz wäre dazu eine gute Plattform. Doch leider sind die Verbände viel zu sehr vom Ausland abhängig und richten sich oftmals gegen uns liberale Muslime, weshalb es schwer ist, eine gemeinsame Basis zu finden. Häufig wird leider – auch von deutschen Medien und Politikern – der Eindruck verbreitet, dass die Verbände für die Mehrheit der Muslime in Deutschland sprächen. Doch genau das ist eben nicht der Fall, da maximal 15 bis 20 Prozent der Muslime in Deutschland organisiert sind. Und trotzdem werden die Verbände oft weiterhin als alleinige Gesprächspartner angesehen.

Könnten Sie dafür ein Beispiel nennen?
So etwa im Fall der der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort wird ein ­Institut für islamische Theologie gegründet, bei dem etwa mit der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in Deutschland (IGS) Organisationen über die Lehr­inhalte entscheiden, die teils vom Verfassungsschutz beobachtet werden und auch den jährlichen anti­semitischen al-Quds-Marsch mitorganisieren. Es wäre hier sehr von Vorteil gewesen, das ganze Projekt nicht so einseitig den bestehenden Verbänden zu überlassen. Denn es gibt doch nicht nur den einen einzigen »wahren Islam«, sondern verschiedene muslimische Strömungen. Das sollten sowohl Bildungsinsti­tutionen als auch die Politik endlich anerkennen und uns bei wichtigen Sachfragen zum Islam berücksichtigen. Derzeit erweist die Politik den ­liberalen Muslimen jedoch einen Bärendienst.

Machen rechte Parteien wie die AfD oder die FPÖ das anders?
Der Islam-Diskurs wird leider sehr von diesen Parteien dominiert. Ich bin dafür, ihnen entschlossen entgegenzutreten. Die Themen Islam und Integration sollten uns alle beschäftigen, denn es gibt ja ganz konkrete Probleme, die wir angehen müssen.

Die Debatte sollte jedoch differenziert geführt und nicht den Rändern der Gesellschaft überlassen werden. Die AfD und die FPÖ bedienen einen identitären Diskurs und heizen die gesellschaftliche Stimmung gegen Muslime auf. Sie tragen wenig bis gar nichts zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei, da ihre »Lösungen« nicht an den Menschenrechten, sondern viel eher am völkischen ­Nationalismus orientiert sind.

Dennoch sind Sie im November 2018 in der FPÖ-nahen Freiheit­lichen Akademie aufgetreten. Warum?
Ich bin dafür, auch mit der AfD und der FPÖ das Gespräch und die Aus­einandersetzung zu suchen. Bei meinem Auftritt in der Freiheitlichen Akademie konnte ich ganz klar unterstreichen, dass ich eine andere Auffassung vom Islam und der Gesellschaft habe als die FPÖ. Als überzeugte Demokratin bin ich der Auffassung, dass man auch mit Menschen sprechen muss, die sich am äußeren Rand unserer Demokratie befinden. Nicht um ihre Meinung zu übernehmen oder Verständnis aufzubringen, sondern um ihnen in der Debatte deutlich zu machen, dass viele ihrer vermeintlichen Lösungen nicht tragfähig sind. Denn es geht nicht nur um eine Religion, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Frage: Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben?

Was tragen die Linken und Linksliberalen zu dieser Debatte bei?
Ich bin zutiefst enttäuscht von den Linken und Linksliberalen. Das sage ich als jemand, die selbst aus der Linken kommt. Vor einigen Jahrzehnten machten wir uns noch stark für Emanzipation und Freiheit, ureigenste Werte von Linken. Heutzutage beobachte ich, dass – wie etwa im Fall der Humboldt-Universität – Linke und Linksliberale mit einer falsch verstandenen Toleranz islamistische Organisationen in Deutschland ­hofieren. Ich will das gar nicht pauschalisieren und alle Linken über ­einem Kamm scheren, da es auch richtig gute Leute mit einer klaren Haltung gegen Islamismus gibt. Doch leider höre ich von ihnen viel zu ­wenig. Daneben gibt es bei ganz bestimmten akademisch gebildeten Linken auch das Problem des pauschalen Rassismusvorwurfs bei ­Kritik am Kopftuch oder an der Burka. Ihre ideologischen Motive werden dann einfach totgeschwiegen. Für die Zukunft wünsche ich mir ein Umdenken, und dass sich manche ihrer vermeintlich moralischen Über­legenheit entledigen und anfangen, die gesellschaftlichen Probleme ­endlich wahrzunehmen.

Betrifft das auch die Debatte über Flüchtlinge?
Die Debatte wird von den extremen Rändern oftmals so geführt, dass es sich bei den Flüchtlinge auf der einen Seite pauschal um Unschuldsengel handelt, die man vor jeglicher Kritik zu schützen hat. Auf der anderen ­Seite werden Flüchtlinge kollektiv kriminalisiert, mit der Konsequenz, dass man sie schleunigst wieder loswerden will. Differenzierung würde dieser Debatte guttun. Flüchtlinge sind in erster Linie Individuen – mit Menschenwürde, weshalb wir jeden Fall vor allem individuell betrachten sollten.

Was heißt das konkret?
Es ist nun wichtig, diejenigen mit ­einer sicheren Bleibeperspektive nicht nur in Arbeit zu bringen und ihnen die deutsche Sprache zu vermitteln, sondern dafür zu sorgen, dass die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte in Integrations­fragen sich nicht wiederholen. Dazu zähle ich in erster Linie, dass keine aktive Integrationspolitik betrieben wurde. Und genau das darf sich nicht wiederholen. Deshalb ist es sehr wichtig, die Werte des Grundgesetzes und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu vermitteln sowie Probleme wie Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit direkt dort anzusprechen, wo sie auftauchen. Wir müssen bereits am Anfang unmissverständlich deutlich machen, dass die Regeln in diesem Land unser Wertefundament widerspiegeln und diese Gesellschaft ­zusammenhalten. Es ist wichtig, dass wir uns alle diesen Regeln und Werten verpflichten, unabhängig von unserer Herkunft. Nur so garantieren wir unsere Freiheit und Sicherheit.