Die Filmindustrie hat Berlin als Kulisse entdeckt

Die Stadt als Serie

»Babylon Berlin«, »4 Blocks«, »Dogs of Berlin«, »Beat«: Im vergangenen Jahr ist die deutsche Hauptstadt zum Schauplatz diverser Serien geworden. In ihnen wird Berlin zum lebenden Mythos und zur liberalen Metropole stilisiert. Eine Polemik.

Vor ungefähr 20 Jahren, anlässlich des Umzugs der Bundesregierung von Bonn nach Berlin, sah sich Joachim Kardinal Meisner veranlasst, die christlichen Gemüter zu beruhigen. Berlin sei zwar nicht das himmlische Jerusalem, ebenso wenig aber die Hure Babylon. Das Gottesvolk solle den Abgeordneten unbesorgt folgen. Seither hat es neben Touristen und Migranten vor allem junge Arbeitskraftunternehmer in die neue Bundeshauptstadt gezogen, die im Glauben an die Segnungen der zur Kreativwirtschaft verniedlichten Kulturindustrie auf paradiesische Arbeitsverhältnisse und dionysische Wochenenden in den Kathedralen der Dekadenz hofften. Überdies sind Streaming-Anbieter wie Netflix in den letzten Jahren zu einer »glokalen« Strategie übergegangen und produzieren für den internationalen Markt immer mehr eigene Formate aus »attraktiven« Regionen.

So gesehen wundert es nicht, dass Fernsehserien aus Berlin derzeit erfolgreich sind. Die großen drei zeitgenössischen Erzählungen »4 Blocks« (TNT), »Dogs of Berlin« (Netflix) und »Beat« (Amazon) haben weltweit Re­sonanz gefunden und die Stadt als Filmschauplatz reüssieren lassen.

Von den Berlin-Serien profitiert neben den großen Medienkonzernen nur ein kleiner Teil des Kreativprekariats. Den meisten Menschen in den abgebildeten Bezirken nützen sie nichts. Auch »Beat« erweist den Menschen, die keine Serien, sondern Kippen oder Runden mit dem Hund drehen, einen Bärendienst.

In der Popmusik erreichte der Berlin-Hype einen frühen Höhepunkt bereits in den siebziger Jahren. Iggy Pop war nicht der Einzige, der kerngesund nach Berlin kam und als Wrack ging. Die Hochphase Berlins in der Literatur markierten das Fin de Siècle und die zwanziger Jahre der Weimarer Republik. Angesichts des großen Erfolgs der Amazon-Serie »Babylon Berlin« träumt heutzutage nicht nur der Berliner Bürgermeister laut von neuen Goldenen Zwanzigern. Doch die abermalige Hauptstadthysterie ist ziemlich spät dran. Der Tourismus stagniert, die ersten Investoren wandern ab und Hipster ­pilgern in andere Trendstädte. Entsprechend abgestanden schmecken die Themen der Serien. Clankriminalität enerviert vermutlich sogar die Abou-Chakers dieser Stadt. Skandale bei der Berliner Polizei können keinen mehr schockieren. Und die hiesigen Technoclubs sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, an einer Überdosis Tourismus gestorben.

Kirsten Niehuus, die Geschäftsführerin der Filmförderung des Medienboards Berlin-Brandenburg, lässt sich davon nicht beirren. Berlin sei, wie sie im Dezember 2018 in der Berliner Zeitung zu Protokoll gab, »zu einem metaphorischen Filmort geworden, eine internationale Marke wie Paris oder New York mit internationalem Wiedererkennungswert«. Sie schlägt so laut auf die Werbetrommel, dass sie ihre eigenen Worte nicht mehr versteht und den Holocaust mal eben unter die Highlights der deutschen Geschichte subsumiert: »Berlin ist das Symbol für die herausragenden Momente deutscher Geschichte, von der Revolution über das Dritte Reich, Kapitulation und Luftbrücke, Mauerbau und Kalter Krieg und schließlich der Mauerfall, der die ganze Welt verändert hat. Berlin ist ein lebender Mythos.« Ist die Marketingmaschine einmal heiß gelaufen, darf die Stilisierung Berlins zum lebenden Mythos und zur liberalen Metropole natürlich nicht fehlen. Einige ziehe es deshalb in die Stadt, so Niehuus, andere zumindest an den Fernseher, um von dort aus am wilden Leben teilzuhaben. Während derzeit Serien wie Pilze aus dem Berliner Boden sprießen, in denen die Hauptstadt die Hauptrolle spielt, wachsen und gedeihen Niehus zufolge auch die Filmbranche und weitere Wirtschaftszweige in der Region. Gefördert werden Serien, deren »Package« stimme: ein spannendes Drehbuch, eine kompetente Regie, ein überzeugender Cast – und die Schatulle des Medienboards öffnet sich.

Kriterien, denen offensichtlich auch »4 Blocks«, »Dogs of Berlin« und »Beat« gerecht wurden. Filmästhetisch unterscheiden sich insbesondere die beiden ersten Serien so sehr voneinander, dass sich die Rede von einer »Berliner Schule« verbietet. Vom notorischen Kameradrohnenflug können jedoch beide nicht lassen. Trotz der Fortschritte in Bildsprache und Drehbuch, die allen Berlin-Serien anzusehen sind, bleiben sie im Vergleich zum US-amerikanischen state of the art mittelmäßig. Diese Mittelmäßigkeit kann angesichts dessen, dass etwa in die Produktion von »Babylon Berlin« über 40 Millionen Euro investiert wurden, nicht mehr wie früher üblich mit dem niedrigen Budget erklärt werden. Sie liefert ex negativo vielmehr einen Beweis dafür, dass objektive Qualität kein Hirngespinst Kritischer Theoretiker ist. »4 Blocks« ist nicht das deutsche »The Sopranos«, wie Die Welt stellvertretend für den kollektiven Wahn suggeriert, nur weil der britische Comedian Ricky Gervais sie in einem Tweet als »fucking masterpiece« bezeichnet hat.

Baran bo Odar, der Regisseur der deutschen Serie »Dark«, gab bei der Weltpremiere seiner schlechten Kopie von »Stranger Things« weitere aufschlussreiche Einblicke in die deutsche Seele: »Wir waren für eine sehr lange Zeit uncool. Aber ich glaube, das ändert sich gerade.«

Die Wiedercoolwerdung der Deutschen angesichts des internationalen Erfolgs deutscher und besonders Berliner Geschichten erklärt Christian Alvart, Regisseur und Drehbuchautor von »Dogs of Berlin«, mit der Übersättigung der Konsumenten durch US-amerikanisches Serien-Fastfood, ein Befund, aus dem die Ressentiments triefen wie Fett aus einem Burger. Die narzisstische Kränkung wird im kulturellen Antiamerikanismus kompensiert. Deutschsein heißt auch, bei Hollywood an den Untergang des Abendlandes zu denken und zugleich mehr oder weniger heimlich für US-amerikanische Endzeitserien zu schwärmen.

Ebenso deutsch wie die Sehnsucht nach einer Serie, auf die man endlich stolz sein kann, ist die kollektive Selbstzerfleischung. Kübelweise Spott wurde in den Feuilletons und auf sozialen Medien über »Dogs of Berlin« ausgegossen. Während die Serie aus Sicht der schreibenden Zunft der Hauptstadt nicht gerecht wird, hält Regisseur Alvart der Berliner Wirklichkeit, wie Sascha Westphal im Freitag treffend schreibt, »einen Zerrspiegel vor, in dem es mehr zu entdecken gibt, als der erste Blick vermuten lässt«. Alvarts Berlin ist ein Dreieck aus Marzahn, Prenzlauer Berg und Neukölln, dazu noch die schicke Gegend, in der die Familie Kurt Grimmers lebt, sowie das Olympiastadion und eine an ein Computerspiel erinnernde Simulation desselben. Doris Akrap hat recht: Die Serie ist so gut, gerade weil sie so unauthentisch ist, schrieb sie in der Taz. Auch ihr Mangel an Aktualität, nicht zuletzt dadurch bedingt, dass das Drehbuch fast zehn Jahre in Alvarts Schublade lag, kommt ihr zugute.

Sie verzichtet zudem auf die Publikumsbevormundung von »4 Blocks«, die Clanchef Toni Hamady immer in die Shisha-Bar schickt, um die Untergebenen wie auch den Zuschauer in seine Pläne einzuweihen. Darüber hinaus stößt die typisch deutsche Mixtur aus Pseudorealismus und geradezu absurder Abwegigkeit übel auf. An der »Spannung zwischen Genauigkeit und Übertreibung, zwischen Stil und Detail«, an der die Macher der Serie im Tip Berlin zu arbeiten vorgeben, verheben sie sich gewaltig. Berühmt-berüchtigte Berliner Kieze sind nicht bloß Kulisse, sondern werden wie die Rapper im Cast als Ausweis der Authentizität instrumentalisiert, so dass der Zuschauer die Stadt, wie einer der Autoren von »4 Blocks« eingesteht, »wirklich verorten kann und sagt, das könnte so tatsächlich am Kottbusser Tor oder in der Sonnenallee geschehen«. Alvart hingegen benennt die Neuköllner Boddinstraße einfach in Kaiserwarte um, grenzt die rechtsfreie Parallelwelt der Clans mit einer roten Linie ab und überlässt die Lücken, die »4 Blocks« vollstopft, der Phantasie des Publikums. »4 Blocks« borgt sich das glänzende Elend Berlins, kann diese Rechnung aber nicht begleichen. Von den Berlin-Serien profitiert neben den großen Medienkonzernen nur ein kleiner Teil des Kreativprekariats. Den meisten Menschen in den abgebildeten Bezirken nützen sie nichts. Auch »Beat« erweist den Menschen, die keine Serien, sondern Kippen oder Runden mit dem Hund drehen, einen Bärendienst. Dass der Tourismus notwendig zerstört, was er begehrt, beweisen die Berliner Technoclubs eindrucksvoll. Zwar hängen dort, anders als in der Serie über eine in der Szene operierende Organhandelsmafia, keine Leichen an der Decke, dafür droht ihnen wie der ganzen Stadt seit Jahren der Ausverkauf. Die serielle Darstellung von organisierter Kriminalität und verwalteter Ausschweifung, die Berlin vor allem in »4 Block« und »Beat« auf sein baby­lonisches Moment reduziert, könnte diesen zuletzt etwas ins Stocken geratenen Prozess wieder ankurbeln.