Gegen den jährlichen "Marsch für das Leben" protestierten am Samstag Tausende

Samstags für die Zukunft

»Lebensschützer« borgen sich ihre Slogans gern von anderen Bewegungen. Das ließ sich auch auf dem diesjährigen »Marsch für das Leben« beobachten.

Großen Einfallsreichtum legen die Veranstalter des »Marschs für das Leben« nicht an den Tag. Statt eigene Slogans zu formulieren, bedienen sich die sogenannten Lebensschützer lieber anderswo und versuchen, Parolen für ihre Zwecke abzuwandeln. Im Zuge der Welle der Solidarität mit Flüchtlingen ab 2015 waren sie mit dem Spruch »Willkommenskultur auch für Ungeborene« angetreten. In diesem Jahr hatte Alexandra Linder, die Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht (BVL), der den »Marsch für das Leben« in Berlin organisiert, einen »Saturday for Future« ausgerufen, in Anlehnung an »Fridays for Future«.

Während die Bewegung für den Klimaschutz am Freitag nach Polizeiangaben mehr als 100 000 Menschen in Berlin auf die Straßen gebracht hat, blieb die Teilnehmerzahl tags darauf beim christlich-fundamentalistischen Schweigemarsch der Polizei zufolge »bei ungefähr 2 700«. Die »Lebensschützer« hatten ihre eigene Zählweise: Hieß es auf der Auftaktkundgebung noch, die Teilnehmerzahl liege »im fünfstelligen Bereich«, verkündete Linder zum Schluss, es seien 8 000 Menschen gewesen – »so viele wie noch nie«. Die tatsächliche Zahl dürfte bei ungefähr 5 000 gelegen haben. Damit ist der Marsch im Vergleich zu der Stag­nation der Vorjahre deutlich gewachsen.

Der CSU-Politiker Norbert Geis äußerte Unverständnis darüber, dass »Wespen, Bienen und Schmetterlinge« geschützt würden, aber nicht der »Mensch am Anfang der Existenz«.

Viele Teilnehmer trugen Plakate im typischen Grün des BVL mit Sprüchen wie »Keine Kinder, keine Zukunft«. Die Organisation achtet auf ihre Außenwirkung, selbstgemachte Schilder werden häufig einkassiert. Ein Jugendlicher, der ein T-Shirt der Nachwuchsorganisation »Jugend für das Leben« trug, hatte Glück und durfte auf einem selbstgemachten Schild den Spruch zeigen: »Zählt nur die Zukunft von Kindern, die freitags nicht zur Schule gehen?«

Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) des Gesundheitswesens hatte am Donnerstag voriger Woche beschlossen, dass Krankenkassen Schwangeren künftig den Bluttest auf die Trisomien 13, 18 und 21 bezahlen. Die Entscheidung wurde auch von feministischer, behindertenpolitischer und medizinischer Seite scharf kritisiert: Die Tests haben keinen gesundheitlichen Nutzen für die Schwangere oder das werdende Kind; daher wird befürchtet, der Druck auf Schwangere, Föten mit Trisomie abzutreiben, könne sich erhöhen und das gesellschaftlich negative Bild von Behinderung als »unnötigem Leiden« sich verfestigen.

 

Auch hier zeigten die »Lebensschützer« ihren Hang, Slogans zu übernehmen, und liefen mit einem der Behindertenbewegung auf: »Inklusion statt Selektion«. Allerdings wollten die Urheber der Parole damit zum Ausdruck bringen, dass ein gut ausgebautes Gesundheits- und Sozialsystem wichtig ist, damit sich werdende Eltern ohne Angst vor dem sozialen Abstieg für Kinder mit Behinderungen entscheiden können. Die christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegner benutzen hingegen diese Debatte, um ihr Kernanliegen zu befördern: die Gleichstellung von Föten mit geborenen Menschen. Ihr Ziel ist es, Antidiskriminierungsvorschriften und Menschenrechte auf Föten auszudehnen, was auch der Slogan »Inklusion auch für Ungeborene« ausdrückt.

Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Marsches befanden sich auch bekannte Politiker: Die AfD-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Berliner Landesvorsitzende Beatrix von Storch nahm an der Auftaktkundgebung teil.

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Norbert Geis trat als erster Redner auf. Er gehört zum rechten Rand der CSU und lehnte unter anderem das Gesetz zur Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe und die »Ehe für alle« ab. In seiner Rede beschwor er den »Schutz der Schöpfung« und äußerte Unverständnis darüber, dass »Wespen, Bienen und Schmetterlinge« geschützt würden, aber nicht der »Mensch am Anfang der Existenz«.
Der BVL ist allerdings manchen »Lebensschützern« zu lasch: Vor der Auftaktkundgebung verteilte ein Mann Flugblätter, auf denen die Verbandsvorsitzende Linder als »partiell pro choice« bezeichnet wurde, da sie in einem Youtube-Video Schwangerschaftsabbrüche nach einer Vergewaltigung als »Grenzfall« bezeichnet habe. Ein Link auf dem Flugblatt führt auf die Seite kindermord.org, auf der die Shoah beispielsweise mit dem Spruch »Abtreibung macht frei« relativiert wird. Auch solche Ansichten wurden auf dem »Marsch für das Leben« geduldet: Ein junger Mann mit der gut lesbaren Aufschrift »Stoppt den Babycaust« auf seinem T-Shirt lief eine ganze Weile neben dem Fronttransparent her, ohne dass Ordner eingeschritten wären.

Proteste kamen den Abtreibungsgegnern deutlich näher als in den Vorjahren. Am Rande der Auftaktkundgebung machten Gegendemonstrantinnen mit einheitlichen T-Shirts und einem Transparent darauf aufmerksam, dass täglich weltweit mindestens 75 Menschen wegen unsachgemäß durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche sterben. Anderen gelang es, mit dem Ruf »Hätt’ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben« die Bühne der »Lebensschützer« zu stürmen. Bevor sie dort ein Transparent entfalten konnten, wurden sie allerdings von den sehr zahlreich anwesenden Zivilpolizisten abgeführt. Eine Sitzblockade sorgte für eine einstündige Verzögerung, während der Marsch vom an­deren Spree-Ufer aus mit Musik und Sprüchen beschallt wurde. Wegen ­dieser und weiterer Blockaden wurde die Marschroute stark verkürzt. Die beiden feministischen Gruppen »What the fuck« und das »Bündnis für sexu­elle Selbstbestimmung« geben an, insgesamt hätten sich etwa 5 000 Menschen an den Gegendemonstrationen beteiligt. Damit zogen die Proteste erstmals so viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer an wie der »Marsch für das Leben«.