Kaschmir-Konflikt

Eskalation einer Erpressung

Pakistans Regierung bedient sich im Kaschmir-Konflikt mit Indien jihadistischer Rhetorik und droht mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Juristisch abgeschlossen ist der Vorgang noch nicht. Am 5. August hatte ­Indiens Präsident Ram Nath Kovind per Erlass Artikel 370 und 35A der ­indischen Verfassung aufgehoben und damit dem indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir dessen Sonderstatus entzogen. Mehrere Klagen dagegen vor dem Obersten Gericht Indiens werden in diesen Tagen angehört und verhandelt. Artikel 370 gewährte dem Bundesstaat Teilautonomie, dazu gehörten eine eigene Verfassung, eine eigene Flagge, ein Ministerpräsident (Chief ­Minister) und politische Autonomie mit Ausnahme der Finanz-, Außen- und Verteidigungspolitik. Artikel 35A verbot Indern, die nicht in Kaschmir ­geboren wurden, dort Land zu er­werben. Dem Präsidialerlass folgten in ­einigen Teilen des Bundesstaats ­Repressalien wie Ausgangssperren, Versammlungsverbote und die Abschaltung des Mobilfunknetzes. Die Ausgangssperre ist mittlerweile auf­gehoben, ein Versammlungsverbot verhängen noch acht von 196 Polizeistationen.

Pakistans radikales Agieren gegen Indien verschleiert verblüffend effektiv, dass die Islamische Republik in dem von ihr verwalteten Teil Kaschmirs de facto wie Indien agiert.

Der Bundesstaat Jammu und Kaschmir besteht aus den drei Regionen Jammu (5,5 Millionen Einwoh­ner, 26 000 Quadratkilometer), Kaschmir (sieben Millionen Einwohner, 16 000 Quadratkilometer) und Ladakh (300 000 Einwohner, 59 000 Quadratkilometer). Der Großteil des Bundesstaats soll zum 31. Oktober in ein Unionsterritorium umgewandelt werden; Ladakh soll als eigenes Unionsterritorium abgetrennt werden. Für viele Kaschmiris ist dies ein Angriff auf die Demokratie. Dass nun Kaschmiris, indische Linke und pakistanische Islamisten gleichermaßen Panik vor einem Bevölkerungsaustausch schüren, ist grotesk. Pakistanische Islamisten riefen indische Muslime auf, ihre Häuser ­gewinnbringend zu verkaufen und nach Kaschmir umzusiedeln, um die Isla­misierung der Region zu besiegeln. Aber der Regionenkonflikt ist kein Religionskonflikt. Auch indische Muslime sind den Kaschmiris wenig willkommen, für Hindus wäre ein Umzug in die Unruheregion mit ihren zahlreichen von Pakistan unterstützten Islamisten ebenfalls wenig attraktiv. Es handelt sich um das am stärksten militarisierte Gebiet der Welt. Realistisch ist allenfalls eine weitere touristische Erschließung.

Indiens Präsidialerlass vorangegangen war am 22. Juli ein Treffen zwischen dem pakistanischen Premierminister Imran Khan und dem US-Präsidenten Donald Trump im Weißen Haus. In Diplomatenkreisen galt der dreitägige Besuch Khans als Belohnung für die Unterstützung bei den Gesprächen der US-Regierung mit den Taliban. Aber auch hier spielt die islamische Atommacht eine ambivalente Rolle: Pakistan ermuntert die alte Führung der Taliban zu Friedensgesprächen und behält die junge und kampfbereite Generation der Taliban als Kampftruppe bei. Khan bat Trump während der Pressekonferenz scheinbar spontan wegen der Kaschmir-Frage um eine Mediation mit Indien, zu der dieser sich überraschenderweise bereit erklärte. In Indien reagierten Analysten entsetzt: Müsse Indien dafür zahlen, dass Trump seine Truppen aus Afghanistan nach Hause hole?

Zwei Wochen darauf wurde klar, dass Friedensverhandlungen in Afghanistan und im indischen Teil Kaschmirs vorerst verschoben sind. Bereits während des G7-Gipfels am 26. August kommentierte Trump, Indien und Pakistan könnten die Kaschmir-Frage ohne ihn lösen. Am 25. September gab es bilaterale Gespräche zwischen Indien und ­Pakistan. Indien verbittet sich Einmischungen in interne Angelegenheiten, im Hintergrund gehen die Gespräche weiter.

 

Die pakistanische Regierung hatte umgehend und scharf auf »Indiens Akt der Tyrannei« vom 5. August reagiert. International unternahm man verstärkte diplomatische Anstrengungen gegen Indien. Pakistans militärischer ­Geheimdienst unterhält Hunderte Twitter-Konten und mehrere als gemeinnützige NGOs getarnte Propagandaagenturen mit Sitz im Ausland zur systematischen Verbreitung von Falschnachrichten über Kaschmir. Am 27. September, als Khan vor der UN-Vollversammlung sprach, beispielsweise inserierte die »International Humanitarian Foundation« (IHF) in Houston ganzseitig in der New York Times. Es handelt sich Recherchen des Wochenmagazins India Today zufolge um eine Organisation, die bislang nicht durch humanitäre Arbeit aufgefallen und erst einen Monat vor dem Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi in Houston registriert worden sei.
Viele Journalisten sind gegen Desinformation durch Geheimdienste nicht gut gerüstet. Auch auf Facebook versagt der Faktencheck bei Falsch­nachrichten, die angeblich aus Kaschmir stammen. Pakistans muslimische Partnerländer äußerten sich jedoch bislang eher zurückhaltend, mit Ausnahme des türkischen Präsidenten ­Recep Tayyip Erdoğan.

Pakistan versetzte sein Militär in erhöhte Alarmbereitschaft, setzte den ­bilateralen Handel mit Indien aus und wies dessen Botschafter aus. Das pakistanische Informationsministerium begann eine Kampagne mit dem Titel »Sag nein zu Indien« und verbot sämtlichen Kulturaustausch und jegliche Kooperation im Unterhaltungssektor. Pakistans Medienaufsicht (PEMRA) verbot alle indischen Produktionen ohne Ausnahme mit dem Hinweis auf eine »Kulturinvasion«.

Internationale Beobachter kritisieren die Vorherrschaft der Armee in Pakistan und die Instrumentalisierung diverser Regierungsbehörden für militärische Pläne, die keine Absicht einer Konfliktminimierung erkennen lassen.  Befürworter einer zivilen Regierung, darunter der ehemalige Präsident Asif Ali Zardari, wurden unter Korruptionsvorwürfen inhaftiert. Die Berichterstattung zu inhaftierten Oppositionspolitikern wurde in den vergangenen Wochen immer wieder unterbrochen und Journalisten wurden darauf hin­gewiesen, die Verfassung zu respektieren und das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht zu untergraben.

Martialische Töne schlug Khan am 27. September während der 74. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York City an. Er prophezeite ein Blutbad in Kaschmir, nannte Modi einen Rassisten und Faschisten, zog zahlreiche Analogien zu Deutschland unter Adolf Hitler und bekräftigte nach dem emphatischen Rezitieren des islamischen Glaubensbekenntnisses seine Entscheidung, notfalls unter Einsatz des Nukleararsenals bis zum Tod für Kaschmir zu kämpfen. Während einer Ansprache am Flughafen kurz nach seiner Landung in Islamabad am 29. September fügte er hinzu: »Egal ob die Welt den Kaschmiris beisteht, wir werden ihnen beistehen! Das ist Jihad! Wir machen das, damit Allah mit uns zufrieden ist.«

Neben Pakistan erwähnten nur China, Malaysia und die Türkei Kaschmir während der UN-Generalversammlung. Pakistans territorialer Anspruch auf den indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir entbehrt jeglicher Grund­lage. Die letzte größere Studie von 2011 ergab, dass etwa ein Prozent der Kaschmiris im indisch verwalteten Teil der Region einen Anschluss an Pakistan befürworten. Pakistans aggressives Agieren verschleiert auf verblüffend effektive Weise, dass die Islamische Re­publik in dem von ihr verwalteten Teil Kaschmirs de facto wie Indien agiert. Demonstrationen etwa für Autonomie sind dort seit Jahren strengstens ver­boten.

Es wäre ein guter Zeitpunkt für die EU, als Pakistans größter Handelspartner mit deutlichen Worten ein Ende der pakistanischen Aggressionen anzumahnen. Der Einsatz für die Wahrung der Menschenrechte in Kaschmir – im indisch wie pakistanisch verwalteten Teil – darf nicht den Eindruck erwecken, man gebe Pakistans Drohungen mit ­Jihad und Atomkrieg nach.