Den Abzug der US-Truppen aus Syrien will die Türkei zum Einmarsch in kurdische Gebiete nutzen

Zum Abschuss freigegeben

Der Rückzug der US-Truppen aus Syrien ermöglicht der Türkei einen Einmarsch in kurdisch kontrollierte Gebiete.

Der US-amerikanische Präsident Donald Trump hat am Sonntag mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan telefoniert und diesem dabei sein Einverständnis mit einer Invasion im noch verbliebenen kurdischen ­Gebiet in Nord- und Ostsyrien gegeben. Erdoğan hatte bereits einige Tage zuvor seine Absicht erklärt, einen 30 Kilometer breiten Grenzstreifen, der alle wesentlichen kurdischen Städte Syriens umfassen würde, militärisch zu besetzen. Bereits im September hat die Türkei die »Rückführung« möglichst vieler syrischer Flüchtlinge in eine türkisch kontrollierte »Schutzzone« angekündigt. Erdoğan will offenbar in großem Maßstab wiederholen, was die Türkei bereits 2018 in Afrin getan hat. Große Teile der kurdischen Bevölkerung flohen 2018 vor den heranrückenden protürkischen Milizen und durften seither nicht in den Distrikt zurückkehren. Stattdessen wurden arabische syrische Flüchtlinge angesiedelt. Viele der ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner der Region harren weiterhin in notdürftigen Zeltstädten in Gebieten unter kurdischer Kontrolle aus.

Diese Form der »ethnischen Säuberung« ist offenbar auch für Kobanê und die Region um Qamishli, Amude und Derik geplant. Das Abkommen mit der EU, das darauf hinausläuft, die Türkei dafür zu bezahlen, dass diese die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak daran hindert, in die EU zu gelangen, hat dazu geführt, dass in der Türkei etwa 3,6 Millionen Flüchtlinge leben. Diese sollen zwangsweise zurück nach Syrien gebracht werden. Aus Istanbul hat die Abschiebung von Syrerinnen und ­Syrern in die Grenzregionen bereits vor einigen Wochen begonnen.

Die selbstverschuldete Erpressbarkeit der EU dürfte einer der Gründe dafür sein, dass der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) bei seinem ­Besuch in Ankara am 3. und 4. Oktober keinerlei Einwände gegen Erdoğans ­Invasionspläne äußerte und damit de facto die Zustimmung der einflussreichsten EU-Nation übermittelte. Die traditionell guten Beziehungen Deutschlands zur Türkei, die bereits 1915 zur deutschen Beteiligung am Genozid an den Armeniern und Assyrern geführt hatten, werden damit auf Kosten der Kurden und der Nachkommen der Überlebenden des Genozids von 1915, von denen viele in Nord- und Ostsyrien leben, weiter gefestigt.

 

Politisch bedeutsamer ist allerdings die Haltung der USA, Russlands und des Iran, die alle im syrischen Bürgerkrieg mitmischen. Während Irans ­Außenminister Mohammed Javad Zarif die Türkei noch am Sonntag davor warnte, »die Souveränität Syriens zu verletzen«, forderte Russlands Außen­minister Sergej Lawrow den Rückzug »aller ausländischen Truppen« aus ­Syrien. In den USA wurde die Ankündigung Trumps, die US-Truppen zurückzuziehen, auch von republikanischen Politikern vehement kritisiert. Trump gelobte daraufhin, die Wirtschaft der Türkei »total zu zerstören«, wie er das zuvor getan habe, wenn sie etwas tue, das er als »Tabu« betrachte. Es ­werde »großen Ärger« geben, sollte »irgendwer von unseren Leuten verletzt werden«.

Die Lage an Ort und Stelle erscheint widersprüchlich. Einige US-Soldaten wurden tatsächlich von der Grenze zur Türkei zurückgezogen. Zugleich sagte eine Sprecherin des von Trumps Entscheidung überraschten Verteidigungsministeriums, dass die Türkei aus dem Combined Air Operations Center der Koalition gegen den »Islamischen Staat« (IS) ausgeschlossen werde. Das würde türkische Luftangriffe in Nord- und Ostsyrien erheblich erschweren. Dann hätten die Syrischen Demokra­tischen Kräfte (SDF) eine Chance, den Angriff zurückzuschlagen oder zumindest lange aufzuhalten und der türkischen Armee empfindliche Verluste zuzufügen.

Unterdessen zieht nicht nur die Türkei an der Nordgrenze ihre Truppen zusammen, sondern auch die syrische Regierungsarmee südlich des Euphrat und südlich von Manbij, dem SDF-­Gebiet westlich des Euphrat. Auf kurdischer Seite nährt dies Spekulationen, dass es eine Absprache zwischen Russland und der Türkei geben könnte und die Region zwischen dem Regime und einer türkischen Besatzungszone aufgeteilt werde. Vertreter der SDF hatten immer bekräftigt, notfalls das Gebiet eher der syrischen Armee zu unterstellen, als es der Türkei zu überlassen.

Anfang der Woche kündigten die SDF an, das Gebiet gegen die Türkei »zu ­jedem Preis« zu verteidigen. Einige Einheiten der SDF, die bisher mit der ­Bewachung gefangener IS-Kämpfer betraut waren, wurden schon abgezogen. Die Bewachung der IS-Gefangenen habe nur noch »zweite Priorität«, sagte Mazlum Kobanê, der Oberkommandierende der SDF, am Dienstag.

Viele der gefangenen Jihadistinnen und Jihadisten hatten gehofft, die ­Türkei werde sie nach einem Einmarsch befreien. Auch manche europäische Gefangene in den Camps hofften auf eine Rückkehr nach Europa, einen ­Wiederaufbau des IS in Syrien oder ein Leben in der Türkei.