Leben in Berlin

»Die Luft ist raus«

Reportage Von Homayun Alam

Berlin inszeniert sich als pulsierende Metropole, angesagt, weltoffen und liebenswert. Aber stimmt das auch? Wir haben Eingeborene und Zugezogene gefragt.

An einem trüben, kalten Tag erzählt Shahram, wie er zu seinem neuen Wohnort Berlin steht. Der 28jährige kommt aus dem Iran. Er sei dort »ein wenig verfolgt« worden, aber nicht aus politischen Gründen. »Wenn die USA das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sein sollten«, sagt er der Jungle World, »so ist der Iran wegen seines unterdrückerischen Regimes das Land begrenz­ter Aussichten.« Alles, was man unternehmen wolle, ob Freizeit, Alltag oder Bildung, unterliege dort den Gesetzen der Sharia. Shahrams Lächeln verschwindet, als er beginnt, den Alltag in seiner Herkunftsstadt Shiraz zu beschreiben. »Ich kenne bisher nur diese eine deutsche Stadt, in der ich seit fünf Jahren bin. Hier tut mir niemand was«, sagt Shahram. Eigentlich verstehe er aber nicht, wie es in der Stadt wirklich zugehe.

Anschluss finden? Berlin macht es einem nicht leicht.

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Oliver Feldhaus

Shahrams Entscheidung, nach Berlin  zu kommen, sei, wie er sagt, eine für ein Leben in Freiheit gewesen. Er habe genug von der Kriminalisierung alltäglicher individueller Handlungen durch einen repressiven religiösen Staat gehabt. Sein neues Zuhause hätte letztlich jede größere Stadt in Deutschland werden können. Allerdings habe Berlin von allen deutschen Städten derzeit international den klangvollsten Namen, deshalb habe es ihn hierher gezogen.

Zugezogene ohne transnationale Migrationserfahrung haben oft eine etwas andere Sicht auf Berlin. Muhsin kam vor 35 Jahren in Frankfurt am Main zur Welt, wo er aufwuchs und studierte. ­Seine Eltern sind aus Marokko und Pakistan. Er findet, in Berlin redeten die Menschen wenig oder gar nicht mitei­nander, man gehe sich ständig aus dem Weg. Den alltäglichen Ton empfindet er als unfreundlich; die »Berliner Schnauze« mag er nicht. In Frankfurt müsse man sich auf viel engerem Raum, ob man es wolle oder nicht, mit vielen Kulturen, Nationalitäten, Sprachen und Religionen auseinandersetzen. Im Ergebnis kämen die Leute viel besser mit­einander aus. Überhaupt sei die Stadt viel besser als ihr Ruf: Von wegen es gebe dort »Ghettos und Parallelgesellschaften« – das sei schlicht falsch. »Ein Blick in die Gesichter reicht«, sagt Muhsin, »um zu sehen, wie nicht Vielfalt, sondern Supervielfalt bei uns ausgelebt wird.« Mit »uns« meint er die Frankfurterinnen und Frankfurter. Das Leben in Berlin empfindet er dagegen als »dürftig«. Die Stadt brauche noch viel Zeit, um sich von ihren tiefen historischen Schäden zu erholen.

 

Nach Berlin zieht es Menschen aus ganz Europa, weil die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten noch günstig sind, was nicht nur für die Mieten gilt. Diese sind in den vergangenen Jahren zwar deutlich angestiegen, sie liegen aber noch unter denen in Paris, London, Madrid und Rom.

Maxime, ein 25jähriger Franzose, verirrte sich nach seiner Ankunft in Köln vor sieben Jahren »irgendwie« nach Berlin. Seitdem hat er Kunstgeschichte und Musik studiert, das Nachtleben genossen und viele Menschen kennengelernt. Doch trotz vieler Versuche, sagt er, habe er nur »drei richti­ge Berliner« in seinem Freundeskreis und mit keinem von denen sei die Freunschaft besonders eng. 

In der Tram in Berlin-Mitte.

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Udo hingegen ist in Berlin geboren und lebt im Stadtbezirk Wedding. Er hat den Bau der Mauer und deren Fall erlebt. Er klagt in seinem Berliner Dialekt: »Ich erkenne mein Berlin nicht mehr.« Da, wo er lebt, gebe es inzwischen ebenso wenige »echte Berliner« wie im szenigen Kreuzberg. Der 71jährige hätte gerne »den antifaschistischen Schutzwall« wieder, am besten gleich »drei Meter höher« als zuvor. Erst seien »die Türken«, dann »die Araber« gekommen, klagt er. Inzwischen fühle er sich von reichen Investoren belagert. Die nähmen Leuten wie ihm die Wohnungen weg. Man könne sich nicht einmal mehr irgendwo richtig beschweren, beschwert er sich. In seiner Zeit als Arbeitnehmer »mit Berlinzu­lage und allem, was noch dazugehörte«, habe er dagegen gut leben können.

Stadt ohne Puls?

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Oliver Feldhaus

Viele Musiker, Künstler und sogenannte Kreative kommen in die Stadt; das galt auch vor dem Mauerfall schon für Westberlin. Der 29jährige Kian aus Irland arbeitet seit mehr als einem Jahr in Berlin als Straßenmusiker. »Anfangs hatte ich kein gutes, auch kein sonderlich schlechtes Gefühl zu dieser Stadt«, sagt er. Ihm seien viele Dinge aufgefallen, die für ihn als Musiker anders gewesen seien auf den Straßen in Brüssel, Prag, Wien, Bukarest, Oslo oder Athen. Eine Sache, die er kaum verstehe, sei die einzigartige Unfreundlichkeit der Berlinerinnen und Berliner. Warum der damalige US-Präsident John F. Kennedy einmal stolz gesagt hat, er sei ein Berliner, könne er kaum nachvollziehen. Schließlich habe Kennedy doch ein ziemlich sonniges Gemüt besessen.

 

Unter Berlinerinnen und Berlinern sei es hingegen eine absolute Seltenheit, dass jemand aus freien Stücken freundlich sei. Kian verspürt inzwischen kaum noch einen Reiz, auf Berlins Straßen zu musizieren. Berlin besitze nicht jenes individuelle Flair, das man in jeder anderen europäischen Hauptstadt schon nach wenigen Stunden spüren könne. »Diese Stadt hat keinen Puls«, so das vernichtende Urteil des gesprächigen Musikers.

Das Szenecafé »Bateau Ivre« am Kreuzberger Heinrichplatz.

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Oliver Feldhaus

Der fehlende Puls dürfte noch ein kleineres Problem der Stadt sein. Ein größeres verrät das Berliner Register zur Erfassung rechter, rassistischer, antisemitischer, LGBTIQ-feindlicher und anderer diskriminierender Vorfälle: 1 358 rassistische und 786 antisemitische Vorfälle dokumentierte es im Jahr 2018. Darauf angesprochen rät ein freundlicher türkischstämmiger Taxifahrer am Flughafen Tegel: »Such dir eine Grup­pe, bleib bei dieser, misch dich nicht mit anderen. Oder willst du, dass man sich in deine Angelegenheiten einmischt?«

In einem kamerunischen Restaurant trifft sich eine Gruppe von Menschen aus Niger, Kamerun, Senegal und Kongo. Sie sprechen Französisch miteinander. Der Jungle World erzählen sie, wie sie in der Stadt zurechtkommen: »Wissen Sie, hier in Berlin muss man sich nicht viel um den anderen kümmern, jeder lebt allein für sich.« In ihrer Gruppe fühlten sie sich durch ihre gemeinsame afrikanische Herkunft, die französische Sprache und das Alltagsleben verbunden. Die nichtafrikanischen Nachbarn beträten hingegen niemals das Restaurant.

 

»Aber Sie zeigen wirkliches Interesse an unserer Herkunftskultur und Abstammung, vielleicht weil Sie selbst Französisch sprechen«, sagt einer von ihnen. Seine Tochter habe eine Masterarbeit im Fach Soziologie über die Besucherinnen und Besucher des Restaurants geschrieben. Darin habe sie festgestellt, dass die Afrikanerinnen und Afrikaner im Stadtteil äußerst isoliert seien.

Grau wie der Asphalt, hart wie die Bordsteinkante: das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg.

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Oliver Feldhaus

Nach einigen Besuchen stellt er der Jungle World seine 31jährige Tochter Vanessa vor. »Eigentlich denkt man woanders vielleicht positiver, besser, ja auch schöner über seine Stadt«, sagt sie über das Ergebnis ihrer soziologischen Arbeit. In Berlin, wo sie geboren wurde, sei man »nicht unbedingt multikultureller« als in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo und Herkunftsstadt ihres Vaters. In Berlin bemerke sie ständig Spaltungen, Marginalisierung und Isolation. Es herrsche eine unausgesprochene Frustration. Eigentlich würde sie gerne die Stadt verlassen, aber in Berlin lebe nun einmal ihre Familie, sagt Vanessa. Erfahrungen mit anderen deutschen Städten habe sie kaum. Arbeitsbedingt habe sie eine Weile im Rhein-Main-Gebiet gelebt, genauer gesagt zwischen Mainz und Frankfurt am Main. Dort sei es »wirklich anders, als wäre ich in einem anderen Land«, sagt sie. Die Menschen dort tauschten regelmäßig höfliche Worte aus. Auch habe sie diese als »leistungsorientierter, weltoffener und viel mehr miteinander verbunden« wahrgenommen. Das Leben, sagt die Soziologin, sei im Westen Deutschlands »strukturierter, bejahender und ordentlicher« als in Ostdeutschland und Berlin.

»Du bist so wunderbar, Berlin«, lautet der Werbespruch einer Biermarke, die ansonsten vor allem für Kopfschmerzen am Tag nach dem Genuss bekannt ist. Dass Berlin wirklich so wunderbar ist, wie diese Bierwerbung, die vor fast jedem Film in Berliner Kinos gezeigt wird, suggerieren will, glaubt wahrscheinlich niemand. Wenn es nach dem Franzosen Maxime geht, dann ist Berlin nicht einmal ein klein wenig wunderbar. Er hat inzwischen das Gefühl, bei ihm sei »die Luft langsam raus«. Er sei ständig müde von der »täglichen eintönigen wirtschaftlichen Armut« und dem »sich stets wiederholenden Hype«.