In Georgien demonstrieren Tausende für eine Wahlrechtsreform

Gebrochene Versprechen

Tausende Menschen demonstrieren in Tiflis, weil eine angekündigte Wahlrechtsreform verworfen wurde. 2019 wird für Georgien zu einem neuerlichen Jahr der Proteste.

Seit Mitte November herrscht in Tiflis wieder einmal Unruhe. Es zieht vor­wiegend junge Menschen auf die Straße. Sie versammeln sich vor dem Parlament, haben Plakate und Fahnen dabei, die georgische und die der EU, manche stellen sogar Zelte auf. Die Polizei setzt Tränengas und Wasserwerfer ein, löst Blockaden auf, doch neue entstehen. Es gab Dutzende Festnahmen, auch mehrtägige Haftstrafen. Doch die Demonstrierenden machen weiter. Manche von ihnen haben sich vorgenommen, ihren Protest solange fortzusetzen, bis ihre Forderungen erfüllt sind – und das könnte dauern.

Ausgelöst wurde die Protestwelle durch eine versprochene, aber nicht verabschiedete Reform des Wahlrechts. Das derzeit geltende Grabenwahlsystem, in dem die Sitze im Parlament durch eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl besetzt werden, ­ermögliche Oligarchen einen zu großen Einfluss auf die Politik, finden die ­Demonstrierenden. Eine von ihnen ist Natalia. Die 41jährige möchte den Druck auf die Regierung erhöhen. »Mein Ziel ist es, dass das Wahlsystem geändert wird, so lange werde ich demonstrieren«, sagt sie. Sie sei auf dem Weg zu einem Gefängnis. Dort seien ein paar ihrer Freunde inhaftiert, die bei den Protesten festgenommen wurden.

»Iwanischwili ist kein Gott, der unserem Land helfen wird, sondern ein Diktator, der seinen Platz in der Regierung für gebildete und ausgebildete Politiker räumen muss.« Natalia, Demonstrantin

Der anhaltende Unmut der Demonstrierenden gilt nicht zuletzt dem Oligarchen Bidsina Iwanischwili, der im April 2012 die Partei »Georgischer Traum« gegründet hat, die das Land seit Oktober desselben Jahres regiert. Der Milliardär gilt als mächtigster Funktionär innerhalb der Partei. Er war es auch, der die Einführung des reinen Verhältniswahlrechts für die Parlamentswahlen im nächsten Jahr versprochen hat. Natalia und ihre Mitstreiter hoffen, dass Iwanischwili durch die Proteste an Macht verliert. »Iwanischwili ist kein Gott, der unserem Land helfen wird, sondern ein Diktator, der seinen Platz in der Regierung für gebildete und ausgebildete Politiker räumen muss«, findet sie.

Schon im Juni beteiligte Natalia sich an den großen Protesten, ausgelöst durch den Auftritt eines russischen Abgeordneten im georgischen Parlament. Damals hatten Demonstrierende versucht, das Parlament zu stürmen. Zwei von ihnen verloren ein Auge, als die Polizei Gummigeschosse einsetzte, es kam zu Straßenschlachten (Jungle World 26/2019). Die Demonstrierenden forderten den Rücktritt des für den Polizeieinsatz verantwortlichen Innenministers Giorgi Gacharia. Stattdessen wurde Gacharia, ein Vertrauter Iwanischwilis, Anfang September Ministerpräsident – ein Affront gegen die Demonstrierenden und ein Anlass, um wieder auf die Straße zu gehen.

Als am 14. November die Wahlrechtsreform im Parlament nicht die erforderliche Dreiviertelmehrheit erhielt, drückte Iwanischwili sein Bedauern aus. Aber an seiner Aufrichtigkeit wird stark gezweifelt. Auch Stefan Meister, der Leiter des Südkaukasus-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis, erachtet dies als abgekartetes Spiel. »Iwani­schwili will die Zügel straffen, nichts an Macht einbüßen«, sagt er der Jungle World. Denn aktuelle Umfragen zeigen, dass Iwanischwili nach dem neuen Wahlrecht keine Mehrheit mehr hätte. »Das will er nicht riskieren«, sagt Meister. Und der Druck der Demonstrierenden sei nicht groß genug, um ihm Zugeständnisse abzutrotzen.

Allerdings scheint es fraglich, ob Iwanischwili mit seiner Hinhaltetaktik weiterhin durchkommt. Viele Demonstrierende fordern neben der Wahlrechtsreform auch Neuwahlen. Themen wie die sozioökonomische Entwicklung werden seit langem vernachlässigt und immer weniger Menschen trauen den Politikerinnen und Politikern zu, das Land in eine bessere Zukunft zu führen. Uwe Halbach, ein Kaukasus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht die Gefahr, dass die Lage sich weiter zuspitzt. »Zurzeit erleben wir eine aktive Zivilgesellschaft, die wütend ist, weil die Versprechen der Politiker, die Lebensverhältnisse der Georgier zu verbessern, nicht ausreichend erfüllt worden sind«, so Halbach zur Jungle World.

Auch wenn die derzeitigen Proteste dem Unmut über die ausbleibende Wahlrechtsreform entspringen, lassen sich die verschiedenen Anliegen der Demonstrierenden »gar nicht mehr voneinander trennen«, sagt Natalia. »Wir brauchen saubere Grünflächen, wir brauchen lebenswerte Städte. Was wir nicht brauchen, sind Gewalt und ­Unterdrückung von Minderheiten.« Das sei »schon ein ziemlich weites Feld«, gibt sie zu. Es bleibt also viel Raum für neue Proteste.