Edward Nortons Gangsterfilm »Motherless Brooklyn« bietet den Anti-Joker

Der Anti-Joker

Edward Norton hat in dem Krimi »Motherless Brooklyn«, seiner zweiten Regiearbeit, einen Helden geschaffen, dem Zynismus und Rachegelüste fremd sind.

Wenn er unter Stress steht, übernehmen die Tics. Dann zuckt Lionel Essrogs Kopf zur Seite, und er brüllt Obszönitäten oder Sinnloses in seine Armbeuge. Fremde antworten ihm darauf in der Regel mit »Gesundheit!«, seine wenigen Freunde nennen ihn einen Freak. Edward Norton spielt unter seiner eigenen Regie den Detektiv mit Tourette-Syndrom aus Jonathan Lethems Bestseller mit einiger Hingabe – und dankens­werterweise ohne das Krankheitsbild überzustrapazieren.

Schon kurz nach Erscheinen des Romans hatte Norton die Rechte an der Verfilmung gekauft, und seither wurde mit Spannung erwartet, ob er den sehr speziellen Protagonisten nutzen würde, um ihn zum Vehikel seiner Schauspielkunst und sich zum Kan­didaten für einen Oscar zu machen. Nach 20 Jahren des Wartens gehen die Reaktionen in der englischsprachigen Presse weit auseinander. Die einen wollen einen zu ambitionierten und mit Themen und Bezügen überfrachteten Film gesehen haben, der seine Ideen letztlich durch Lan­geweile und einen Hang zur Monumentalisierung der eigenen Rechtschaffenheit unterminiert. Die anderen loben seine Vehemenz und das ausgeprägte Gespür für Zeit und Ort.

Alles beginnt mit der Ermordung Frank Minnas (Bruce Willis), für den Essrog arbeitet. Ihm fühlt er sich in dankbarer Liebe verbunden, wie er des Öfteren anmerkt. Minna hat sich früh seiner angenommen. Nach einer Kindheit im Waisenhaus mit der vom Tic bedingten Stigmatisierung machte er ihn und drei ebenfalls durch alle Raster gefallene Kumpel zu »Minna-Männern«, zu Angestellten in seinem etwas zwielichtigen Transport- und Detektivunternehmen. Neben der Arbeit bot ihnen das einen Familienersatz. Es ist also naheliegend, dass Essrog alles daran setzt herauszufinden, wer seinen Wohltäter auf dem Gewissen hat, zumal er sich selbst vorwirft, Minna nicht besser geschützt zu haben.

Lethems Romanvorlage spielte im Kleinkriminellenmilieu Brooklyns der neunziger Jahre, Norton verlegte die Handlung für seine Adaption um 40 Jahre zurück in die Fünfziger. Das eröffnet dem Neo-Noir-Krimi zum einen die Möglichkeit, herausgeputzte Automobile, Hüte, Streichholzheftchen und großartigen Jazz zum Einsatz zu bringen. Zum anderen erlaubt es, die Geschichte als Fabel über Machtmissbrauch, die Hybris visionärer Planer und institutionellen Rassismus beim generalstabsmäßigen Stadtumbau New Yorks auf Kosten der ärmeren Bevölkerung zu erzählen.

»Motherless Brooklyn« ist nach der Romantischen Komödie »Glauben ist alles!« aus dem Jahr 2000, die ebenfalls durchwachsene Kritiken ­erhielt, Nortons zweite Regiearbeit – und großes Star-Kino. Neben dem Regisseur, Drehbuchautor, Produzenten und Hauptdarsteller in Personalunion und Bruce Willis spielen Alec Baldwin und Willem Dafoe überzeugend wie lange nicht mehr; Gugu Mbatha-Raw spielt mit Laura Rose, die im Zentrum der sich nur langsam enträtselnden umfassenden Intrige steht, zudem eine kämpferische weibliche Figur, die weit mehr ist als nur ein love interest des Helden.

Wie »Chinatown« will »Motherless Brooklyn« mehr sein als ein unterhaltsamer Gangsterfilm. Es geht ihm sehr deutlich darum, aufzuklären und Stellung zu beziehen – historisch und in der Gegenwart.

Essrog stößt im Laufe seiner Ermittlungen auf sie. Auf ihrer Fährte eröffnen sich ihm und dem Film gleich zwei neue Welten: Roses Zuhause ist ein Jazzclub in Harlem mit Livemusik auf der absoluten Höhe ihrer Zeit; die Tage widmet sie, gemeinsam mit einer streitbar-durchsetzungsstarken Bürgerrechtsaktivistin (großartig aufgelegt: Cherry Jones), dem Kampf gegen die so genannten Slumbeseitigungspläne der städtischen Baubehörde, die wenig anderes sind als großflächige, planvolle Gentrifizierung. Die mitreißenden Aufnahmen der von ihr organisierten Versammlungen erinnern an die Filme Ken Loachs.

Wie sein offensichtliches Vorbild, Roman Polanskis »Chinatown« von 1974, will »Motherless Brooklyn« mehr sein als ein unterhaltsamer Gangsterfilm. Es geht ihm sehr deutlich darum, aufzuklären und Stellung zu beziehen – historisch und in der Gegenwart. Eine starke Inspira­tion für die Filmerzählung scheint Robert Caros 1974 erschienenes Buch »The Power Broker« gewesen zu sein, die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Biographie des New Yorker Stadtplaners und Politikers Robert Moses, für dessen Brücken- und Highway-Bauten ganze Stadtviertel mit vorwiegend armer und schwarzer Bewohnerschaft weichen mussten. Sicher kommt es nicht von ungefähr, wenn der von Baldwin verkörperte und an Moses angelehnte rassistische Stadtbau-Tycoon ­Moses Randolph in seinen größenwahnsinnigen Reden an Donald Trump erinnert. Seine Anhänger begeistert er mit Tiraden, in denen er beschwört, die Welt gehöre den Machern und nicht den Theoretikern und Kritikern, über die er die Nase rümpft.

Überhaupt wird viel erklärt und geredet in diesem Film: Sowohl über Macht und wie sie sich von welcher Seite aus anfühlt, als auch über Wege hinaus aus dem Ausgeliefertsein. Genretypisch gibt es viele falsche Spuren und Wendungen, was vom Publikum einiges an Aufmerksamkeit erfordert. Die feine Figurenzeichnung sorgt jedoch dafür, dass das Interesse an den Charakteren und ihrer Entwicklung nicht nachlässt. Wie Essrog beim Besuch in einer Bar einer Frau dreimal mit einem Streichholz Feuer reicht, das Streichholz aber, kaum dass es entflammt ist, wieder ausbläst – »Entschuldigung!« – bleibt ebenso im Gedächtnis wie viele andere hübsche Ideen zur Visualisierung des Chaos in seinem Kopf, wie er es nennt.

Die andere Seite von Essrogs Handicap sind sein Ordnungszwang und sein fotografisches Gedächtnis. Nicht zuletzt um dessentwillen hat ihn wohl auch Minna einst eingestellt und ihm beigebracht, wie man den eigenen Kopf benutzt. Bei der Lösung des Falls spielt das eine entscheidende Rolle. Dennoch geht Essrogs Wandlung vom Underdog, der häufiger zusammengeschlagen wird als Arthur Fleck in »Joker« und seine Tics nur durch Alkohol und Dope unter Kontrolle halten kann, zum ritterlichen Fall- und Problemlöser alles in allem etwas zu glatt über die Bühne.

Dass ihm dabei noch der eigentlich unabdingbare Zynismus abgeht, lässt ihn zusätzlich weicher – und dadurch vielleicht harmloser – erscheinen als Vorbilder wie Jack ­Nicholson in der Rolle des Jake Gittes in »Chinatown« oder eben Joaquin Phoenix’ Joker aus diesem Jahr, zu dem er wie eine Antithese wirkt. Es macht ihn aber auch zu einer relativ neuen Art von Helden, mit der sich mehr erreichen lässt, als es zunächst den Anschein hat.

Im Gegensatz zu anderen jüngeren Erzählungen über die Verkommenheit der Metropole und ihrer Mächtigen bei gleichzeitigem Leiden an den eigenen Defekten schildert Norton Essrog nicht als verbitterten Mann. Schon gar nicht möchte er sich für seinen Schmerz an der Welt rächen. Im Gegenteil hat er in sympathischer Weise zu melancholisch grundierter Abgeklärtheit gefunden. Und zur Einsicht, dass es Bedeutenderes auf der Welt gibt als die eigenen Probleme. Statt um sich zu schlagen, ist er bereit, auch über sich selbst zu lachen.

Motherless Brooklyn (USA 2019). Buch und Regie: Edward Norton. Darsteller: Edward Norton, Bruce Willis, Willem Dafoe, Alec Baldwin, Gugu Mbatha-Raw