Buddhismus und Bubblegum aus dem musikalischen Nachlass von Arthur Russell

Buddhistische Bubblegum-Musik

Die neue Compilation des verstorbenen Arthur Russell versammelt ein Potpourri der Genres, in denen sich der Musiker Zeit seines Lebens versuchte: Folk, Disco und Pop.

Arthur Russells Biographie liest sich wie das Paradebeispiel eines kompromisslosen Künstlerlebens: Er lebte Ende der sechziger Jahre in einer buddhistischen Kommune in Kalifornien, war später eine zentrale Figur der musikalischen Avantgarde New Yorks und arbeitete mit Größen wie Philip Glass, David Byrne und Allen Ginsberg zusammen. Er formte den Discosound der späten Siebziger mit und mischte die Popmusik der Acht­ziger mit seinem Cello auf.

Russell war zeitlebens ein getriebener Kreativer und experimentierte ständig mit den aktuellsten Sounds und technischen Gerätschaften herum.

Größere Bekanntheit erlangte er allerdings erst nach seinem durch eine Aidserkrankung bedingten frühen Tod 1992. Insbesondere die 2004 erschienene Compilation »Calling Out of Context« wurde mit ihren experimentell instrumentierten und produzierten Popsongs zu einer in Insiderkreisen höchst beliebten Platte. Russell avancierte zum Idol einer ganzen Generation von Indiepopmusikern, seine Songs wurden überaus häufig gecovert, unter anderem von Blood Orange, Hot Chip, José González oder Sufjan Stevens (alle 2014 auf der Compilation »Master Mix« erschienen).

»Iowa Dream« (benannt nach dem US-Bundesstaat, in dem Russell seine Kindheit und Jugend verbrachte) ist die neueste posthume Veröffentlichung des Musikers und zeigt einen großen und intimen Querschnitt durch sein Schaffen. Enthalten sind Songs in klassischer Folk-Manier, experimentelle Stücke, die an Beat Poetry erinnern, von Disco inspirierte Produktionen aus seiner Anfangszeit in New York und die späteren, mit Drum Machine und verzerrtem Cello instrumentierten Popsongs. Einige dieser Songs stammen von Tapes, die er 1974 und 1975 in einer Session mit dem legendären Produzenten John Hammond aufgenommen hatte, die aber nicht zu einem Plattenvertrag führten; andere stammen aus seinem Nachlass von über 1 000 Kassetten und Tonbändern, der inzwischen, wie jene von Lou Reed und Miles Davis, von der New York Public Library verwaltet wird.

Wiederentdeckt und veröffentlicht wird der Nachlass nun peu à peu von Tom Lee, Russells ehemaligem Lebenspartner, und Steve Knutson von Audika Records. Das Label wurde eigens für Russells Veröffentlichungen aus dem Archiv gegründet. In einem fast zehnjährigen Prozess haben Lee und Knutson 19 sehr unterschiedliche Titel für »Iowa Dream« ausgewählt. Viele dieser Stücke wurden von Russell selbst mehrfach überarbeitet und mit verschiedenen Musikern eingespielt. Ein Großteil des Zusammenstellens entfiel daher auf das Anhören des Materials, die Auswahl der besten Versionen und die Restaurierung der zum Teil qualitativ schlechten, auf Kompaktkassette aufgenommenen Stücke.

Dass sich dieser Aufwand gelohnt hat, hört man schon beim Auftakt, dem Titel »Wonder Boy«, einem wunderbar atmosphärischen Folksong. Russell singt und spielt Klavier, im Hintergrund hört man den sparsamen Einsatz von Schlagzeug, Xylophon und Backgroundgesang. Strukturiert ist der Song durch viele dramaturgische Pausen. Im zweiten Titel »I Never Get Lonesome« singt Russell in Cowboy-Manier:

»I never get lonesome / Never in the day / ­Never do I worry / I’ve got nothing to say«, um dann im vorletzten Vers einzulenken: »I never get lonesome / Es­pecially in the night when you are gone / I never get lonesome / Ex­cept when I think of you.«

Dieser doppelte Boden und der Sinn für die Ambivalenz und das Absurde menschlicher Existenz taucht immer wieder in Russells lyrischen Songtexten auf, etwa wenn er in einem der stärksten Titel, »Words of Love«, singt:

»If I could convince you that these are words of love / The heartache would instantly remain / But the pain would be gone«. Und auf mehr oder weniger subtile Art sein unerwidertes Verlangen beschreibt: »Into your pocket my slow hand can reach / To see what you carry up close to your thighs / Reaching and looking right into your eyes«.

Interessant sind in diesem Kontext auch die frühen Popsongs aus seiner Zeit in San Francisco, etwa »Come to Life« and »I Still Love You«, die sich sowohl formal als auch inhaltlich deutlich stärker am Zeitgeist orientieren und laut Aussage des Wegbegleiters Allen Ginsberg ein Versuch waren, »buddhistische Bubblegum-Musik« zu machen. Im Gegensatz zum späteren Werk verzichtete Russell hier auf direkte und in­direkte Andeutungen von Homosexualität und auch das Songwriting ist sehr viel unkomplizierter, jedoch nie zu flach.

Russell war 1969 mit 18 Jahren aus der Kleinstadt Oskaloosa abgehauen, deren Bürgermeister sein Vater war. Er ging nach San Francisco, um in einer buddhistischen Kommune zu leben und klassische indische Musik zu studieren. Hier machte er auch Bekanntschaft mit Ginsberg, mit dem er zeitlebens zusammenarbeitete. Zwar war er klassisch ausgebildeter Komponist und Cellist, aber auch Singer-Songwriter und stark von der Beat Generation be­einflusst. Diese Einflüsse zeigen sich besonders in den alltäglichen Themen in »Iowa Dream« (anfangs unterlegt von lautmalerischem Hahnenschrei und Hundegebell), »Just Regular People« (einer Ode an sein unkonventionelles »Sweetheart« im Kontrast zu seinen durchschnittlichen Eltern und seiner eigenen Normalität) und »Barefoot in New York« (zu einem repetitiven Beat mit Stottern vorgetragen und mit Stimmen aus dem Off).

Besonders stark ist letzteres, von über zehn Minuten im Original auf verträglichere fünfeinhalb gekürzt, in dem Russell von Assoziationen alltäglicher Dysfunktion, seinem Schlafmangel und einem klebrigen Rückstand an seiner Schuhsohle, über den Verfall in seiner Umgebung zur Frage gelangt, ob es moralisch vertretbar sei, hypnotische Musik zu spielen, alles unter dem Mantra »But now it’s even worse than before«.

Mit »I Wish I Had a Brother« und »I Felt« folgen die wohl am stärksten autobiographisch gefärbten Titel, in denen es um Russells Kindheit und Schulzeit geht, die aber musikalisch zu den weniger kunstvollen gehören. Hier zeigen sich auch die Grenzen dieser posthumen Veröffentlichung: Der Fokus auf starke Einzeltitel bei der Auswahl und der Anspruch, einen großen Querschnitt der Arbeit zu zeigen, macht eine interessante Sequenz auf dem Album beinahe unmöglich. Nach einigen der wahrscheinlich stärksten Songs, »Follow You« – der melodisch und gesanglich einem Singer-Songwriter-Hit am nächsten kommt –, und »List of Boys« – eine offensichtliche Wahl für das Dance-Pop-Album »Calling Out of Context«, wäre da nicht die schlechte Audioqualität – folgt das ungeschliffene »I Kissed the Girl from Outer Space«. Wohl der Vollständigkeit halber wurde hier eine Andeutung auf Arthur Russells Zeit als Discoproduzent im New York der späten Siebziger und frühen Achtziger gemacht.

Leider wirkt diese Produktion im Kontext des Albums fehl am Platz, und im Vergleich zu den größtenteils unter den Pseudonymen Dinosaur L (mit David Byrne, Henry Flint, Peter Zummo und anderen), Loose Joints (mit Steve D’Aquisto) und Indian Ocean veröffentlichten Discotracks etwas ziellos. Es lässt auch erahnen, warum Russell zu seinen Lebzeiten bis auf das 1986 erschienene »World of Echo« kein Soloalbum veröffentlicht hat, denn sein musikalisches Schaffen war vielseitig und seine Aufmerksamkeit auf einen Aspekt war selten von so langer Dauer, dass sich daraus viele kohärente Werkgruppen hätten bilden können.

Russell war zeitlebens ein getriebener Kreativer und experimentierte ständig mit den aktuellsten Sounds und technischen Gerätschaften herum, wie den Verzerrern und Echogeräten auf »World of Echo« und den Drumcomputern in den späteren Popsongs; am besten ist »Iowa Dream« aber an den Stellen, wo es am stärksten auf Pop und Folk rekurriert und einfallsreich mit den Regeln der Genres umgeht.

Etwa in »Did It Yourself«, einer kurzweiligen Neuaufnahme eines Gitarrenstücks, das Russell schon mehr als 10 Jahre zuvor geschrieben hatte, oder »The Dogs Outside Are Barking« mit einem resignierenden Refrain, der paradigmatisch für das Schaffen des Musikers steht: »I’m just afraid to tell you what I’m thinking / It might take too long«.


Arthur Russell: Iowa Dream (Audika Records)