Benjamin B. Ferencz, dem Hauptankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess, zum 100. Geburtstag

Bennys Story

Benjamin B. Ferencz war Hauptankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess und setzte sich für die Entschädigung jüdischer Opfer des Nationalsozialismus ein. Sein Beitrag zur Neugestaltung des Völkerrechts ist bedeutend. Im März feiert der US-amerikanische jüdische Jurist seinen 100. Geburtstag.

März 1919. Während in Paris die siegreichen Alliierten und ihre Verbündeten über die europäische Nachkriegsordnung verhandelten, kamen in London Vertreter verschiedener jüdischer und zionistischer Organisationen zusammen, um gemeinsame Forderungen an die Friedenskonferenz auszuarbeiten. Vergeblich klagten sie Wiedergutmachung für erlittene Kriegsschäden ein, aber auch für materielle Verluste, die aus den unzähligen Pogromen gegen Juden im östlichen Europa während des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit resultierten.

Schon als Jurastudent hatte sich Ferencz zum Vertreter des »liberal legalism« entwickelt, der die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechen anderen Formen der Vergeltung vorzog.

Anfang März des darauffolgenden Jahres wurde Benjamin Berell Fe­rencz im transsilvanischen Ciolt geboren. Zwischen dem 11. und dem 13. März begeht er seinen 100. Geburtstag. Er wisse nicht, an welchem Tag genau er das Licht der Welt erblickt habe, berichtete Ferencz in einem Interview. 1920 habe in der kleinen ungarischen Gemeinde jegliche Verwaltungsstruktur gefehlt, weshalb auch keine amtliche Geburtsurkunde existiere.

Konfrontiert mit bitterer Armut und grassierendem Antisemitismus, verließ Ferencz’ Familie 1921 das mittlerweile zu Rumänien gehörende Ciolt und reiste in die USA. Ferencz verbrachte seine Kindheit im New Yorker Stadtteil Hell’s Kitchen, damals ein Schwerpunkt der Bandenkriminalität. Die Erfahrungen, die er dort machte, weckten sein Interesse an Kriminologie, Soziologie und Rechtswissenschaft. Von 1940 bis 1943 studierte er an der renommierten Harvard Law School. Als Mitarbeiter des aus Polen stammenden Kriminologen Sheldon Glueck bekam er dort erstmals Dokumente über die Tötung von Juden im von Deutschen besetzten Polen zu Gesicht.

1943 wurde Ferencz Soldat der U.S. Army und leistete seinen Beitrag bei der Niederwerfung Nazideutschlands. Nach Kriegsende leitete er ein Rechercheteam für die Vorbereitung der Nürnberger Nachfolgeprozesse. Dabei stießen seine Mitarbeiter auf Akten, die die Erschießung von Juden hinter der Ostfront dokumentierten. Ferencz setzte sich dafür ein, auf Grundlage dieser Akten Anklage gegen 24 Kommandeure der Einsatzgruppen zu erheben – für mehr Beschuldigte sei im Verhandlungssaal des Nürnberger Justizpalastes kein Platz gewesen, berichtete Ferencz später. 1947 leitete der damals 27jährige schließlich als Hauptankläger den Fall IX der Nürnberger Nachfolgeprozesse, den sogenannten Einsatzgruppen-Prozess. Das Tribunal verhängte gegen den Großteil der Angeklagten die Todesstrafe.

Seine nach Prozessende 1948 geplante Rückkehr in die Vereinigten Staaten schob Ferencz jedoch noch für weitere acht Jahre auf. In dieser Zeit engagierte er sich in drei jüdischen Organisationen, die sich der Aushandlung und Realisierung von Restitutions- und Entschädigungsansprüchen widmeten. Mit den präzendenzlosen Verbrechen des Holocaust kam diesen Themen im Rechtssystem nun eine ungleich größere Bedeutung zu als noch in der Zwischenkriegszeit. So leitete Fe­rencz die deutsche Vertretung der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO), die sich um die Rückerstattung jüdischer Grundstücke, aber auch kultureller und ritueller Gegenstände ­bemühte, die zwischen 1933 und 1945 »arisiert« worden waren.

Als Rechtsberater der Jewish Conference on Material Claims Against Germany (JCC) wohnte Ferencz der Vorbereitung sowie der Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens zwischen Israel und der Bundesrepublik im Jahr 1952 bei. Der Historiker Dan Diner hat die ambivalente Atmosphäre der Verhandlungen und die Diskussionen auf israelischer Seite über die Frage, ob die Ermordung von sechs Millionen Juden mit einem »Blutgeld« gesühnt werden könne, in seinem Buch »Rituelle Distanz« eindringlich beschrieben. Als Jurist waren Ferencz »solche Übersetzungsvorgänge von moralischer Schuld in materielle Schulden geläufig«, wie die Herausgeber eines kürzlich erschienenen Bandes mit Dokumenten aus dem Vorlass von Ferencz formulieren. Gleichwohl habe er stets ein »feines Gespür für die sich hier öffnenden Abgründe« behalten.

Ab 1954 fungierte Ferencz zudem als Verwaltungsdirektor der United Restitution Organization (URO), die weltweit überlebenden Juden bei Rückerstattungs- und Entschädigungsansprüchen juristisch beistand. Schon 1955 betreute die URO etwa 65 000 Antragsteller. In all seinen Positionen verfolgte Ferencz zwei Hauptanliegen: Zum einen sollte verhindert werden, dass das »durch Ausrottung erbenlos gewordene jüdische Eigentum« (Dan Diner) in den Händen der Mörder, also in Deutschland, verblieb. Zum anderen sollten dringend benötigte Gelder zur Unterstützung des Wiederaufbaus jüdischer Institutionen – sowohl im neugegründeten Staat Israel als auch in der Diaspora – aufgebracht werden. Damit zog Ferencz nach seiner Rolle als Ankläger im Einsatzgruppen-Prozess zum zweiten Mal den Unmut vieler Deutscher auf sich.

Denn immer wieder versuchten Firmen wie I. G. Farben, Krupp, AEG und Telefunken, die allesamt jüdische Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, sich Lohnnachzahlungs- und Entschädigungsforderungen zu entziehen. Für die Firma Rheinmetall etwa sprang 1966 das Nachrichtenmagazin Spiegel in die Bresche. Es wurde insinuiert, Ferencz verdiene als Rechtsanwalt kräftig an den prospektiven Entschädigungsgeldern ehemaliger Rheinmetall-Zwangsarbeiter. Das Gegenteil war der Fall, Ferencz bezog in den fünfziger Jahren ein ein­ziges, recht schmales Gehalt für seine Tätigkeiten bei JRSO, JCC und URO, während seine ehemaligen Harvard-Kommilitonen zur selben Zeit schon Partner in »angesehenen Anwaltskanzleien oder Bankpräsidenten geworden waren«, wie Ferencz in den autobiographischen »Benny Stories« auf seiner Homepage erzählt.

In dem Dokumentenband »Kriegsverbrechen, Restitution, Prävention. Aus dem Vorlass von Benjamin B. Ferencz« findet sich auch dessen Antwort auf den diffamierenden Artikel im Spiegel. Der brieflich eingeforderten Gegendarstellung verweigerte das Magazin allerdings den Abdruck. Darin zeigt sich die erinnerungspolitische Verhärtung der sechziger Jahre, an der sich auch 1981 noch nichts geändert hatte, als Ferencz’ quellenreiche Studie zur Zwangsarbeiterentschädigung »Lohn des Grauens« in deutscher Sprache erschien. Sie kam historisch zu früh – erst in den neunziger Jahren setzte eine öffentliche Debatte ein, die schließlich in die Gründung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« mündete.

Auch Ferencz’ jahrzehntelanges Engagement für die Verrechtlichung internationaler Beziehungen fand lange wenig Beachtung. Schon als Jurastudent hatte er sich zum Vertreter des liberal legalism entwickelt, der die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechen anderen Formen der Vergeltung vorzog. Nicht zuletzt deshalb hatte er das Angebot angenommen, an den Nürnberger Nachfolgeprozessen mitzuwirken. Zwischen 1975 und 1983 publizierte Ferencz eine voluminöse Trilogie zu Fragen des Völkerstrafrechts, die in der Forderung nach der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes kulminierte.

Doch erst nach dem Ende des Kalten Krieges zeichnete sich dessen Realisierung ab. 1998 mit dem Römischen Statut begründet, folgte 2002 die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag. Als im August 2011 das erste Verfahren in Den Haag zum Abschluss kam, ehrte das Gericht den damals 91jährigen für seine langjährigen Bemühungen. Ferencz verlas als Vertreter der Staatsanwaltschaft das Schlussplädoyer.

Auch als fast 100jähriger scheut Ferencz keine öffentliche Debatte. Mitte Januar druckte die New York Times einen Leserbrief, in dem er die von Präsident Donald Trump angeordnete Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani als Verstoß gegen nationales wie auch internationales Recht verurteilte. Freilich wirkt der liberale Legalismus angesichts der Zustände in der Islamischen Republik Iran reichlich idealistisch. Aber man kann nicht anders, als Ferencz Respekt zu zollen, wenn er argumentiert, dass er als Einwanderer, der im Zweiten Weltkrieg für die Vereinigten Staaten kämpfte und sich dem Land verpflichtet fühle, weil es ihm einzigartige Möglichkeiten bot, nicht anders könne, als vor denen zu warnen, »who seem to prefer war to law«, die also Krieg dem Recht vorziehen.