In Indien sind in der Coronakrise Hunderttausende Binnenmigranten unterwegs 15 Knut Henkel über den wachsenden Einfluss des Militärs in Lateinamerika

Vier Stunden bis zum Lockdown

In Indien haben Millionen Tagelöhner und Wanderarbeiter durch die Ausgangssperre ihre Existenzgrundlage verloren. Hindunationalisten nutzen die Pandemie, um gegen Muslime und Marginalisierte zu hetzen.

Das Desaster begann nahezu ohne Vorwarnung. Am 24. März um 20 Uhr wandte sich Premierminister Narendra Modi in einer Fernsehansprache an die Nation und verhängte ab Mitternacht eine dreiwöchige landesweite Ausgangssperre, den sogenannten Lockdown. Für 1,38 Milliarden Menschen wurde so mit einem Vorlauf von nur vier Stunden die häusliche Quarantäne verordnet. Über Nacht verloren in ­allen Städten Indiens Millionen von Tagelöhnern und Wanderarbeitern ihre Existenzgrundlage. Die meisten verfügen über geringe oder gar keine Rücklagen. Hunderttausende von ihnen stammen aus weit entfernten Dörfern, viele fanden sich als Illegale auf den Straßen wieder: Weil ihr täglicher Lohn nun ausblieb, verloren sie ihre Unterkunft, sie hatten nichts zu essen und kein Trinkwasser. So mussten die Wanderarbeiter in ihre Heimatdörfer fliehen, wenn sie in der Krise überleben wollten.

Zwar kündigte die Regierung Hilfsmaßnahmen für die Wanderarbeiter an, dennoch ignorierten viele von ihnen die Ausgangssperre und eilten zu den Bahnhöfen, um noch einen der letzten maßlos überfüllten Busse zu erwischen. Die Züge standen bereits still. Viele konnten sich die Reise nicht ­leisten und brachen zu Fuß auf. Massenhaft machten sich Wanderarbeiter auf den Weg in ihre über ganz Indien verteilten Herkunftsbezirke. Das Innenministerium befahl der Polizei daraufhin, die Grenzen der Bundesstaaten zu schließen und die Binnenmigranten in eine 14tägige Quarantäne zu stecken. Besonders viele Rückkehrer waren in die nordindischen Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh unterwegs, die die bevölkerungsreichste Region des Landes bilden. Die meisten Menschen der Wanderkarawanen gehörten marginalisierten Gruppen an, so der Autor und Menschenrechtler Kancha Ilaiah Shepherd: »Wir wissen, dass die meisten von ihnen Dalits, OBCs (Other Backward Classes) und Adivasi (Indigene) waren, zusammen mit einigen wenigen Armen aus ansonsten privilegierten Kasten.« Dalits, die sogenannten Un­berührbaren, bilden die unterste Gruppe im offiziell verbotenen hinduistischen Kastensystem.

Massenhaft machten sich Wanderarbeiter auf den Weg in ihre Heimatbezirke. Das indische Innenministerium befahl der Polizei daraufhin, die Grenzen der Bundesstaaten zu schließen und die Binnenmigranten in eine 14tägige Quarantäne zu stecken.

Gleichzeitig entwickelte sich die Krise in den zahlreichen Slums von Indiens Großstädten dramatisch. In der Megacity Mumbai leben schätzungsweise 65 Prozent der zwölf Millionen Einwohner in Slums. Die Bewohner haben in ihren engen und stickigen Hütten, bei derzeit über 30 Grad Celsius im Schatten, besonders hart mit den Auswirkungen der Ausgangssperre zu kämpfen. Lebensmittel werden knapp, die Angst wächst. In einem der größten Slums Indiens, in Dharavi in Mumbai, leben bis zu einer Million Menschen auf etwa zwei Quadratkilometern; es gibt weltweit kaum eine höhere Bevölkerungsdichte. In Dharavi könnte sich das Virus besonders leicht ausbreiten, die vorgeschriebenen Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen sind hier nur schwer einzuhalten. Häufig lebt eine Familie in nur einem Raum, im Durchschnitt zählt ein Haushalt in Dharavi sechs Personen. Oftmals teilen sich ­Tagelöhner, die in Schichten arbeiten, ein Zimmer. Mehrere Haushalte nutzen dieselben Sanitäreinrichtungen. Der Zugang zu sauberem Wasser und Seife ist vielerorts nicht mehr sichergestellt.

Wer gegen die strikte Ausgangs­sperre verstößt, dem drohen hohe Geldstrafen oder gar bis zu zwei Jahre Haft. In den sozialen Medien kursieren ­Videos, teils von Polizisten selbst gefilmt, die zeigen, wie die indische Polizei die Regeln durchsetzt. Es gibt Szenen, in denen Menschen gezwungen werden, Liegestütze oder Kniebeugen zu machen; Gruppen müssen in der Mittagssonne ausharren. In einigen Videos prügeln Polizisten mit Bambusstöcken auf die sogenannten Regelbrecher ein. Es gibt zudem Berichte, dass Polizisten auf Menschenmengen geschossen ­haben sollen.

Die 21tägige Ausgangssperre reicht allein nicht aus, um die Covid-19-Epidemie einzudämmen; man hoffte aber darauf, mit ihrer Hilfe könne anfällige Gesundheitssystem die Krise bewältigen. Indien, das nur etwa ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen ausgibt, hat weniger als 20 000 Beatmungsgeräte für die Behandlung von Covid-19-Patienten bereitgestellt. Einem Bericht der Johns-Hopkins-Universität zufolge verfügen die USA über etwa 160 000 Beatmungsgeräte für eine Bevölkerung, die weniger als ein Viertel der indischen ausmacht. Mangelnde Ressourcen stellten das zentrale Problem dar, kommentiert The Free Press Journal aus Mumbai: »Die Reaktion der Regierung, eine Kombination aus maximalen Einschränkungen für die Bevölkerung und minimalem Handeln – zu wenige Tests, Mangel an medizinischer Ausrüstung und ein viel zu kleines Hilfspaket – belegt dies.«

Reaktionäre Hindunationalisten nutzen die Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus und suchen die Schuld bei ohnehin bereits marginalisierten Gruppen. Die Regierung hat den rapiden Anstieg der Infektionszahlen auf eine Reihe von Ereignissen mit hoher Ansteckungsrate zurückgeführt, beispielsweise ein internationales Seminar muslimischer Missionare in Neu-­Delhis Stadtteil Nizamuddin. Die Großveranstaltung der muslimischen ­Organisation Tablighi Jamaat mit über 9 000 Gläubigen aus 40 Ländern, die vom 13. bis 15. März stattgefunden hatte, entwickelte sich mit über 1 000 bestätigten Infektionen zum Hotspot Indiens. Am 18. April wurden 4 291 bestätigte Fälle von Covid-19 in 23 Bundesstaaten vom indischen Gesundheitsministerium mit dieser Veranstaltung in Verbindung gebracht, was einem Drittel aller bestätigten Fälle in Indien entspricht.

Nachdem das von der regierenden hindunationalistischen Partei BJP ­geleitete Gesundheitsministerium wiederholt Tablighi Jamaat für die Verbreitung von Sars-CoV-2 verantwortlich gemacht hatte, begann im ganzen Land eine Welle antimuslimischer Gewalt. BJP-Politiker wetterten öffentlich über einen »Corona-­Jihad« und muslimischen »Coronaterrorismus«. Die Propaganda dämonisierte Muslime, die angeblich eine böswillige Kampagne führten, um Covid-19 bei der hinduistischen Mehrheit zu verbreiten. Ärzte und andere Beschäftigte des Gesundheitswesens würden angespuckt.

Ein Privatkrankenhaus in Uttar Pradesh veröffentlichte eine Anzeige in ­einer Zeitung, in der Muslime aufgefordert wurden, das Krankenhaus nur dann zu besuchen, wenn sie einen negativen Covid-19-Test vorlegen können. »Es ist klar, ihr Ziel ist es, so viele Menschen wie möglich mit dem Coronavirus zu infizieren und sie zu töten«, twitterte der BJP-Politiker Kapil Mishra, der in Delhi für als antimuslimischer Aufwiegler bekannt ist. Bereits Ende Februar war es dort zu Gewaltausbrüchen gekommen, bei denen 50 Menschen starben (Jungle World 10/2020).

Andere marginalisierte Gruppen sind ebenfalls von der Hetze betroffen. CNN berichtete, dass Dalits daran ­gehindert wurden, Lebensmittel und Medikamente zu kaufen.

Als am 14. April Zahl der gemeldeten Fälle auf über 10 000 stieg, verlän­gerte Modi die Ausgangssperre bis zum 3. Mai. Kurz darauf kursierten in Mumbai Nachrichten auf Whatsapp, dass am Abend Züge an der Bahnstation Bandra bereitgestellt würden, um die gestrandeten Wanderarbeiter in ihre Dörfer zu bringen. Schnell wurde klar, dass es sich um eine Falschmeldung handelte. Die Polizei forderte die Menschen auf, den Platz zu räumen. Die meisten von ihnen weigerten sich, protestierten gegen die Verlängerung und forderten, in ihre Dörfer zurückkehren zu dürfen. Das Verbreiten von Falschmeldungen über Covid-19 wird in Indien zwar streng ­bestraft, die führenden Politiker des Landes äußern sich dennoch tendenziös. Modi forderte die Menschen in mehreren seiner zahlreichen Ansprachen an die Nation dazu auf, auf Töpfe zu schlagen und Kerzen anzuzünden, um Solidarität zu demonstrieren. Kein Wort widmete der Premierminister den Opfern der muslimfeindlichen Propaganda.