Juden in Deutschland zweifeln nach antisemitischen Anschlägen am Schutz des Staats

Antisemitischer Alltag

Nach dem Angriff auf einen jüdischen Studenten vor einer Synagoge in Hamburg bezweifeln immer mehr Juden, dass der Staat sie noch schützt.

Drinnen feierte die jüdische Gemeinde Sukkot, draußen griff ein Mann einen jüdischen Studenten mit einem Klappspaten an. Was am Sonntag vor anderthalb Wochen vor der Hamburger Synagoge Hohe Weide geschah, versetzte fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Anschlag in Halle erneut Jüdinnen und Juden in Deutschland in einen Schockzustand.

Der 29jährige Angreifer war in einen Tarnanzug der Bundeswehr gekleidet. Einem Bericht des Spiegel zufolge war er zeitweise Bundeswehrsoldat gewesen. Er habe 2016 freiwillig Wehrdienst geleistet, eine dreimonatige Grundausbildung an der Waffe absolviert und später als Sanitäter gearbeitet. Der ­Täter fügte dem 26jährigen Studenten, der eine Kippa trug, mit einem Klappspaten schwere Kopfverletzungen zu. In der vergangenen Woche konnte der Angegriffene das Krankenhaus wieder verlassen. Er teilte mit, nicht öffentlich auftreten und anonym bleiben zu wollen. In der Hosentasche des Angreifers fanden Sicherheitskräfte nach dessen Festnahme einen Zettel mit einem hand­gezeichneten Hakenkreuz.

 

»Solidarität reicht nicht. Solidarität ist wie eine Kopfschmerztablette bei einer schweren Krankheit. Sie lindert den Schmerz, aber sie bekämpft nicht die Ursachen.« Landesrabbiner Shlomo Bistritzky

Der Landesrabbiner Shlomo Bistritzky sagte der Frankfurter Rundschau zum Vorgehen des Täters, dieser sei mit dem Taxi vorgefahren und habe die anwesenden Polizisten gefragt, ob dort die Synagoge sei: »Man muss die Ermittlungen abwarten, warum er nicht als Gefahr erkannt wurde.« Auch zum Ablauf der Festnahme gab es Unklarheiten. Zunächst hieß es, die anwesenden Polizisten hätten nicht eingegriffen. Die Polizei Hamburg betonte später in einer Pressemitteilung, ihre Einsatzkräfte hätten den Angreifer festgesetzt. Erste Augenzeugen hatten hingegen davon berichtet, der Sicherheitsdienst der Gemeinde habe den Mann überwältigt.

Sandra Levgrün, Pressesprecherin der Polizei Hamburg, wies Vorwürfe zurück. »Die Objektschutzkräfte haben sich dann schon in seine Richtung bewegt, weil er ihnen komisch vorkam«, sagte sie dem NDR. »Aber genau in dem Moment hat er dann auch schon den verdeckt getragenen Spaten gezogen und hat zum Angriff übergesetzt. Das ist, selbst wenn Polizei daneben steht, nicht immer zu verhindern.«

Die Polizei stufte den Angriff als versuchten Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung ein. Die Zentralstelle Staatsschutz der Generalstaatsanwaltschaft hat die Ermittlungen übernommen. Zugleich sprach die Polizei von einem »extrem verwirrten Eindruck«, den der Täter auf die Beamten gemacht habe. Einen Tag nach dem Angriff wies die Haftrichterin den Mann in eine psychiatrische Einrichtung ein.

»Hamburg steht fest an der Seite unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger«, sagte Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) in Reaktion auf den Anschlag. Bundesaußenminister Heiko Maas (ebenfalls SPD) twitterte: »Das ist kein Einzelfall, das ist widerlicher Anti­semitismus und dem müssen wir uns alle entgegenstellen!« Der jüdische Autor Dmitrij Kapitelman entgegnete spürbar empört: »Diese ›Wir alle‹-Appelle sind so frech, scheinheilig und politisch feige. Als Jude fühle ich mich schlicht davon verhöhnt.

Wir alle haben einen Innenminister, der absolut alle Maßnahmen blockiert, um endlich an die Nazis in den Sicherheitsbehörden ranzukommen«, schrieb er ebenfalls auf Twitter.

Die Hilf- und Konzeptlosigkeit der Regierenden war auch zwei Tage nach dem Anschlag bei einer ersten Pressekonferenz spürbar. Tschentscher trat gemeinsam mit Bistritzky und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Philipp Stricharz, vor die Kamera des NDR.

Tschentscher sprach davon, »das jüdische Leben in Hamburg positiv sichtbar zu machen, zur Normalität werden zu lassen«.
Bistritzky, der nur wenige Minuten nach dem Angriff mit seinen Kindern an der Synagoge eingetroffen war, wurde deutlicher: »Wir möchten jetzt ­keine Solidarität, wir möchten Taten.« Am Freitag präzisierte er im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau: »Solidarität reicht nicht. Solidarität ist wie eine Kopfschmerztablette bei einer schweren Krankheit. Sie lindert den Schmerz, aber sie bekämpft nicht die Ursachen.«

Auf Twitter erhob er drei Forderungen: »Zukunft für jüdisches Leben schaffen«, zum Beispiel der Wiederaufbau der in der Pogromnacht 1938 zerstörten Synagoge am Bornplatz; für »alle jüdischen Einrichtungen die ­Sicherheit verbessern, sofort«; und als Teil von »Begegnung und Dialog« der Besuch einer jüdischen Einrichtung als Pflichtteil schulischer Ausbildung in Hamburg. Das zweifelhafte Verhältnis von Hamburger Behörden zu jüdischen Gemeinden demonstriert ein weiterer Fall aus dem Frühsommer. Damals kam es auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg zu einer Hausdurchsuchung bei dem 2018 zurück­getretenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgang Seibert. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 73jährigen die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gemäß der Paragraphen 129a und 129b des Strafgesetzbuchs vor. Der Durchsuchungsbeschluss, der der Jungle World vorliegt, begründet das mit Aussagen, die Seibert auf einer Veranstaltung in Hannover im Jahr 2014 getätigt haben soll. Als Nachweis ist ein falsch geschriebener Link eingefügt. Konkret geht es um die Finanzierung der ­»Arbeiterpartei Kurdistans« (PKK) und die Aussage Seiberts: »Wir haben bis jetzt Geld für Waffen gesammelt und vielleicht verlagern wir das jetzt n’ bisschen. Nicht aus dem Grund, dass wir das ablehnen (…), sondern weil man da auf ‚ner anderen Seite ’ne andere Hilfe leisten kann (…) und Waffen halt so teuer sind.«

Seibert stand im Zentrum überregionaler Aufmerksamkeit, als im Herbst 2018 der Spiegel aufdeckte, dass viele biographische Umstände, die er öffentlich dargelegt hatte, zu großen Teilen erfunden waren, unter anderem die Behauptung, er sei Nachkomme von Shoah-Überlebenden. Trotz weiterhin offener Fragen bezeichnete der Spiegel Seibert als »Hochstapler« und bestritt, dass er Jude sei – eine Feststellung, die letztlich nur ein Rabbinatsgericht treffen kann.

Seiberts Rechtsanwalt Alexander Hoffmann sagte nun der Jungle World: »Es scheint, als habe die Generalstaatsanwaltschaft auf den richtigen Moment gewartet, um gegen meinen Mandanten zu ermitteln.« Es gehe um die Unterstützung von kurdischen Gruppen in Syrien, die nicht strafbar sei. »Die Generalstaatsanwaltschaft scheint lediglich darauf abzuzielen, ein Strafverfahren gegen Herrn Seibert einzuleiten und öffentlichkeitswirksam zu führen. Es geht hier darum, einen unbequemen Linken kaltzustellen«, so Hoffmann.

Möglicherweise richten sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aber nicht nur gegen Seibert persönlich, sondern auch gegen die Jüdische Gemeinde Pinneberg. Da der Beschuldigte Vorsitzender der Gemeinde gewesen sei, sprächen die Verwendung des Pronomens »wir« sowie die Äußerung »unsere Gemeinde unterstützt die kurdische Bewegung« dafür, »dass er diese Äußerungen nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf Geldmittel der Jüdischen Gemeinde bzw. Geldmittel ihrer Mitglieder bezog«, wie es in dem Durchsuchungsbeschluss heißt. Nana Frombach, Pressesprecherin der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, sagte dazu der Jungle World: »Die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg richten sich nicht an der religiösen Überzeugung eines Tatverdächtigen, sondern ausschließlich an den Kriterien für die Annahme ­eines Anfangsverdachts aus. Ein Anfangsverdacht besteht lediglich da­hingehend, dass der Beschuldigte nicht nur eigene Gelder, sondern auch Mittel der Jüdischen Gemeinde Pinneberg zur Unterstützung der PKK verwendet haben könnte, ohne dass dies zwangsläufig mit Wissen bzw. Billigung der Gemeindemitglieder geschehen sein muss.« Weitere Informationen zum Stand der Ermittlungen gab sie nicht.

Ein Vorwurf gegen Seibert im Artikel des Spiegel von 2018 lautete, dass er »sogar seine Freunde vom schwarzen Block aus Hamburg« anheuere, »um die Synagoge in Pinneberg vor Neonazis zu schützen«. Schön wäre es ja, wenn wenigstens Linke willens und in der Lage wären, hierzulande Jüdinnen und Juden zu schützen. Wie schon der Anschlag in Halle 2019 nährt die Attacke auf den jüdischen Studenten in Hamburg erneut den Verdacht, dass es mit dem Schutz für Juden von staatlicher Seite nicht zum Besten steht.