Aufgabe der Linken ist es, in der europäischen Migrationspolitik das Schlimmste zu verhindern

Geduldig gegen die Festung Europa

Disko Von Krsto Lazarević

Die derzeitige Aufgabe der politischen Linken ist es, in der europäischen Asylpolitik das Schlimmste zu verhindern.

diskoWelche Handlungsmöglichkeiten gibt es in der derzeitigen europäischen Flüchtlingspolitik? ­Christian Jakob sah dank der Schwächung der rechtspopulistischen Parteien in ­Europa neue Spielräume (Besser weitermachen), Anna Jikhareva plädierte für eine Zusammenarbeit der Flüchtlingsbewegung mit Black Lives Matter und Klima­bewegung (Bildet Banden).

 

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) tritt am 8. Oktober mit 85 Minuten Verspätung vor die Presse. Er ist Gast­geber der Innenministerkonferenz der EU und soll einen Kompromiss für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik präsentieren. Er wirkt überraschend entspannt, macht aber keinen Hehl daraus, dass er bislang keinerlei Ergebnisse zu präsentieren hat: »Ich sage, dass es gelin­gen kann. Bei allem Optimismus will ich nicht sagen, dass es gelingen wird.«

Die verantwortliche EU-Kommissarin Ylva Johansson wirkt deutlich angespannter. Ein Journalist merkt an, dass viele NGOs den Vorschlag der Kommission kritisierten, weil Menschenrechte nicht geschützt würden. Johansson antwortete geradezu wütend: »Wenn sie sagen, unser Vorschlag schütze keine Menschenrechte, dann haben sie unrecht.« Im Gegensatz zum konservativen Seehofer kann die feministische Sozialdemokratin aus Schweden eine rein restriktive Flüchtlingspolitik nicht als Erfolg verkaufen. Darin liegt eine Chance.

Den Parteien der Mitte und links der Mitte kann und sollte man immer wieder vor Augen führen, dass eine menschenrechtsfeindliche Asyl­politik für sie mit politischen Kosten verbunden ist.

Die politischen Verhältnisse in der EU bergen derzeit noch kein Potential für eine solidarische Flüchtlingspolitik. Im Gegenteil: Unter der zynischen Überschrift »Europäische Solidarität« sollen mit dem neuen Migrationspakt die Zusammenarbeit mit Autokraten ausgeweitet, Abschiebungen erleichtert und Menschen davon abgehalten werden, die EU zu erreichen. In der Flüchtlingspolitik bedeutet »europäische Solida­rität« also nichts anderes als gemeinsame Mauern, Zäune und Menschenrechtsverletzungen, finanziert durch die Europäische Union.

Welche Spielräume bleiben da der politischen Linken? Es mag langweilig klingen, aber das Wichtigste ist, dass sie von der EU und ihren Mitgliedstaaten verlangt, sich an ihre eigenen Gesetze zu halten und jene Werte ernst zu nehmen, die in Sonntagsreden immer hochgehalten werden.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex beteiligt sich an illegalen pushbacks, die griechische Regierung lässt Menschen auf offener See auf Plastikinseln aussetzen und kroatische Grenzpoli­zisten foltern Menschen an der EU-Außengrenze. Doch die EU-Kommission behauptet, es gebe dafür keine Beweise, die griechische und kroatische Regierung behaupten, es handele sich um fake news, um Propaganda der Türkei beziehungsweise linker NGOs. Damit machen sie sich angesichts der Beweislage aber auch regelmäßig lächerlich.

Wichtig ist auch, das Thema in den Medien zu halten. Das gelingt derzeit sehr gut. Zwar werden viele Beiträge über die Lage an der EU-Außengrenze pflichtbewusst damit eingeleitet, dass das Thema zu wenig Aufmerksamkeit bekomme, doch gehört es bei nüchterner Betrachtung zu den prominentesten Auslandsthemen in den deutschen Leitmedien.

Viele Linke und Aktivistinnen sind unzufrieden, weil die Proteste gegen ein neues Flüchtlingscamp Moria noch nicht zu Ergebnissen geführt haben. Das heißt aber nicht, dass nichts erreicht worden wäre. Die unhaltbaren Zustände auf den griechischen Inseln erhalten mehr Aufmerksamkeit als in den vergangenen Jahren. Das liegt an der Arbeit von Aktivistinnen, aber auch daran, dass vermehrt Menschen in Zeitungen und anderen Medien arbeiten, die sich für das interessieren, was Geflüchtete zu sagen haben, und nicht nur dafür, was über Geflüchtete gesagt wird. ­Geflüchtete erscheinen medial vermehrt als Menschen und Individuen und nicht mehr nur als Masse.

Christian Jakob kritisierte an dieser Stelle vor zwei Wochen (Jungle World 43/2020) den »sehr auf Moria« verengten Blick, der andere Orte der Entrechtung von Geflüchteten in den Hintergrund rückt. Es ist natürlich richtig, dass die Lager auf den anderen griechischen Inseln kaum besser sind und die menschenfeindlichen Praktiken der kroatischen Polizei an der EU-Außengrenze in vielerlei Hinsicht sogar noch schlimmer. Manchmal braucht es aber ein Symbol, das stellvertretend für die menschenverachtende Flüchtlingspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten steht. Das dient der Komplexitätsreduktion und hilft, ein ­gemeinsames Narrativ zu schaffen. Gestern waren es Orte wie Calais, Idomeni oder Lampedusa, heute ist es Moria. Es sind Orte und Namen, die auch denjenigen im Gedächtnis bleiben, die sich nicht täglich und schwerpunktmäßig mit Flüchtlingspolitik auseinandersetzen. Es braucht Parolen, und »Nie wieder ­Moria« ist eine verdammt gute Parole.

Jakob schrieb zudem sehr richtig, dass die rechtspopulistischen Parteien in Europa schwächelten und sich dadurch neue Spielräume in der Flüchtlingspolitik eröffneten. Das spiegelt sich in Deutschland auch in der öffentlichen Meinung wider. Die Mehrheit findet es grundsätzlich richtig, Menschen von den griechischen Inseln oder aus dem Mittelmeer Gerettete aufzunehmen. Damit ist bereits ein großer Erfolg im Kampf um die öffentliche Meinung erzielt.

Es ist auch ein Erfolg der Bündnispolitik zwischen antirassistischen Initiativen, der zivilen Seenotrettung, den Kirchen und vielen anderen Akteuren. Die deutsche Regierung interessiert sich nicht besonders für die Anliegen linker Antirassistinnen oder gar Geflüchteter, die weder jetzt wählen dürfen noch in den kommenden Jahren das Wahlrecht erhalten werden. Aber die SPD und sogar Teile der Union müssen sich dafür interessieren, wenn Geflüchtete und Anti­rassistinnen sich mit Bürgermeistern und gro­ßen Teilen der Zivilgesellschaft zusammentun.

Anna Jikhareva schrieb an dieser Stelle vergan­gene Woche denn auch sehr richtig: »Am kraftvollsten sind linke Parteien, wenn sie bewegungsnah sind, soziale Bewegungen, wenn sie mit der institutionellen Politik im Gespräch bleiben, diese mit ihren Forderungen aber auch unter Druck setzen.« Eine Aufgabe von Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Watch, Kampagnen wie »Leave No One Behind« und Bündnissen wie Seebrücke ist es, die etablierten Politiker und die etablierten Parteien ständig daran zu erinnern, was von ihnen erwartet wird.

Das gilt gerade in der Flüchtlingspolitik für progressive Parteien, für die es verlockend sein kann, das leidige Thema Flüchtlingspolitik ihren potentiell konservativen Koalitionspartnern zu überlassen. Man sollte diese Parteien und politischen Verantwortlichen deswegen immer wieder daran erinnern, dass es nicht einfach hingenommen wird, wenn Flüchtlingsrechte in Koa­litionsverhandlungen geopfert werden. Man sollte linke oder grüne Parteien spüren lassen, dass es hohe politische Kosten nach sich zöge, die Rechte von Geflüchteten in Koalitionsverhandlungen zu verraten.

Jikhareva forderte in ihrem Text: »Bildet Banden!« Sie machte auf das Potential von Bündnissen aufmerksam. Eine stärkere Zusammenarbeit der Klimaproteste mit der »Black Lives Matter«-Bewegung oder der Migrantifa wäre politisch sinnvoll. Menschen fliehen, weil sie auch wegen klimatischer Veränderungen nicht mehr dort bleiben können, wo sie vorher gelebt haben. Und natürlich würde man nicht Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen, wenn es weiße Europäer wären. Die Schnittpunkte der ­Bewegungen sind offensichtlich.

Seehofers Ziel ist es, bis Dezember eine Einigung über ein neues euro­päisches Asylsystem zu erreichen. Gemessen an der politischen Situation wäre es ein Grund zur Freude, wenn er das nicht schaffte. Die Konservativen und Rechten in Europa wollen Abschottung und sind bereit, fast jeden Preis dafür bezahlen. Den Parteien der Mitte und links der Mitte kann und sollte man immer wieder vor Augen führen, dass eine menschenrechtsfeindliche Asylpolitik für sie mit politischen Kosten verbunden ist. Darauf aufbauend ist es Aufgabe der politischen Linken, immer wieder zu nerven, moralische Grenzen aufzuzeigen, Menschlichkeit in den Blick der etablierten Politik zu rücken und es selbst lokal und von unten, an der Basis, besser zu machen.

Zwar ist dieser Befund etwas unbefriedigend, wenn man sich ein Ende der »Festung Europa« wünscht. Aber es geht erst einmal darum, das Schlimm­ste zu verhindern. Morgen können wir dann hoffentlich an einer gerechteren Welt mit globaler Bewegungsfreiheit arbeiten.