Estlands rechtspopulistischer Innenminister Mart Helme ist zurück­getreten

Eine Provokation zu viel

Der estnische Innenminister Mart Helme ist zurückgetreten.

Provokationen und das Spiel mit der öffentlichen Empörung gehören zum Kerngeschäft der rechtspopulistischen Estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE). Das änderte sich auch nicht, nachdem die EKRE im Mai 2019 mit den Parteien Keskerakond (Zentrumspartei) und Isamaa (Vaterlandsunion) eine Regierung gebildet hatte. Ihr populärster Vertreter, der ehemalige EKRE-Vorsitzende Mart Helme, trat am Montag vergangener Woche nach einem politischen und medialen Skandal als Innenminister zurück.

Auslöser waren Äußerungen Helmes in einer Radiosendung des privaten, der EKRE nahestehenden Senders Tre Raadio am Vortag, an der er gemeinsam mit seinem Sohn, dem Finanzminister Martin Helme, und dem Europaabgeordneten Jaak Madison (beide EKRE) teilgenommen hatte. Helme hatte in der Sendung unter anderem den gewählten US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden und dessen Sohn Hunter Biden wüst beschimpft. Biden sei nicht vom US-amerikanischen Volk, sondern »vom Staat« gewählt worden. »Die Logik der Funktionsweise des tiefen Staats besteht darin, Drecksäcke einzuschmuggeln – korrupte Drecksäcke, die erpresst werden können. Joe Biden und Hunter Biden sind korrupte Charaktere », sagte Mart Helme. Damit knüpfte er an die unter Rechtspopulisten und Alt-Right-Anhängern verbreitete Vorstellung an, es gebe einen deep state, der die USA insgeheim steuere.

Seit 2015 haben die USA ihrer Botschaft in Tallinn zufolge über 190 Millionen US-Dollar in die militärische Zusammenarbeit mit Estland investiert.

Binnen weniger Stunden nahmen die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid, ihr Vorgänger Toomas Hendrik Ilves und fünf ehemalige estnische Ministerpräsidenten öffentlich Stellung und forderten personelle Konsequenzen. Kaljulaid berief den Nationalen Sicherheitsrat ein, um über die Folgen von Helmes Äußerungen für das Verhältnis zwischen Estland und den USA zu sprechen. Die USA sind der wichtigste außen- und sicherheitspolitische Partner des Landes. Seit 2015 haben sie nach Angaben der US-Botschaft in Estland über 190 Millionen US-Dollar in die militärische Zusammenarbeit mit dem Nato-Partner investiert. Die Nato-Mitgliedschaft sowie die enge Kooperation mit den USA gehören für das kleine Estland zur Staatsräson und gelten als maßgeblich für den Schutz vor dem östlichen Nachbarn Russland. Helmes Äußerungen beurteilten viele daher nicht nur als rechtspopulistisches Gepoltere, sondern auch als Angriff auf die Verteidigungsfähigkeit des Landes.

Bezeichnend ist, dass Helme sich überhaupt bis vorige Woche im Amt halten konnte. Weder seine wiederholten verbalen Angriffe auf estnische Medien noch seine offen zur Schau gestellte Misogynie und Homophobie hatten bislang Konsequenzen. Erst im Oktober hatte er in einem Interview mit der Deutschen Welle Homosexuellen die Ausreise nach Schweden empfohlen, da sie dort willkommener seien als in Estland. Wie bei allen bisherigen Skandalen zog der estnische Ministerpräsident Jüri Ratas (Keskerakond) auch in diesem Fall keinerlei Konsequenzen. Zwar hatte er Helme in der Vergangenheit öffentlich und wiederholt widersprochen, doch diesen stets im Amt belassen.

Zumindest offiziell trat Helme aus freien Stücken zurück, da er die Verleumdungen und Lügen der estnischen Medien satt habe. Ob Helme damit ­seiner Entlassung nur zuvorkam oder Ratas auch diesen Skandal auszusitzen versucht hätte, ist unklar. Silver Tambur, der Gründer des englischsprachigen Nachrichtenblogs Estonian World», geht im Gespräch mit der ­Jungle World davon aus, dass die Regierungskoalition kurz vor dem Bruch stand. Das gute Verhältnis zu den USA sei für Estland zu wichtig, um es aufs Spiel zu setzen. Der Journalistin Vilja Kiisler zufolge aber hätte Ratas auf keinen Fall das Fortbestehen der Koalition riskiert. Der Ministerpräsident klammere sich verzweifelt an die Macht. Bei einer Entlassung Helmes, so Kiisler, hätte die EKRE die Koalition voraussichtlich verlassen. Helme sei in letzter Zeit amtsmüde geworden. Die Leitung des Innenministeriums sei zu arbeitsintensiv für den 71jährigen gewesen.

Helme ist nun wieder einfacher Parlamentsabgeordneter und wird der Regierung wahrscheinlich auch so seine Themen aufdrängen. »Niemand wird mich mundtot machen«, kündigte er bei seiner Rücktrittserklärung an. Helme will sich auch der Vorbereitung eines Referendums widmen, das für den 25. April 2021 geplant ist. Auf Betreiben der EKRE sollen die Esten darüber entscheiden, ob die Ehe in der Verfassung als Verbindung von Mann und Frau festgeschrieben wird. Damit will die EKRE einen zentralen Punkt ihres homophoben Parteiprogramms verwirklichen: die Verhinderung der gleichgeschlechtlichen Ehe.

Bislang sind Ehen in Estland nur zwischen Mann und Frau erlaubt, seit 2016 sind aber gleichgeschlechtliche eingetragene Partnerschaften möglich. Ob das Referendum wie geplant stattfinden kann, ist aus rechtlichen Gründen ungewiss. Auch ob es sich tatsächlich um ein Referendum oder nur um eine unverbindliche Befragung der Bevölkerung handeln soll, ist in der Regierungskoalition umstritten. Die oppositionelle Sozialdemokratische Partei Estlands (SDE) hat unabhängig davon angekündigt, das Vorhaben mithilfe Tausender parlamentarischer Änderungsanträge aufhalten zu wollen.