Ein Gespräch mit dem Publizisten Au Loong-Yu über Streiks und Proteste in Hongkong

»Eigentlich sind die Menschen in Hongkong relativ unpolitisch«

Interview Von Christopher Wimmer

In Hongkong haben in den vergangenen Jahren immer wieder zahlreiche Menschen gegen den wachsenden Einfluss Chinas auf die Sonderverwaltungszone demonstriert. Die organisierte Linke in Europa könnte möglicherweise etwas von der Bewegung lernen.

Au Loong-Yu arbeitet in Hongkong als Publizist und setzt sich für Arbeiterrechte ein. Mitte der achtziger Jahre war er als Lehrer tätig und gab die linke Zeitschrift »Pioneer« heraus. 1999 gründete er mit anderen die NGO »Globalization Monitor«, die politische Bildung in Gewerkschaften fördert. Sein Buch »Revolte in Hongkong. Die Protestbewegung und die Zukunft Chinas« ist kürzlich im Verlag Bertz + Fischer erschienen.

 

Hongkong hat im vergangenen Jahr heftige soziale Kämpfe erlebt. Millionen Menschen gingen auf die Straße, ein politischer Generalstreik fand statt und es gab wiederholt heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Was hat die Bewegung in der Stadt ausgelöst?

Der Aufstand von 2019 speiste sich vor allem aus der Wut über das erneut gebrochene Versprechen der Pekinger Führung, der Bevölkerung Hongkongs das allgemeine Wahlrecht zu geben. Im Jahr 1997 erfolgte die Übergabe der Stadt an die Volksrepublik China und seitdem ist das allgemeine Wahlrecht sogar im Grundgesetz Hongkongs (dem »Basic Law«, Anm. d. Red.) festgeschrieben, wurde jedoch nicht umgesetzt.

»Die Revolte von 2019 war politisch radikal, aber sozial konservativ.«

Doch es gab weitere Aspekte. China bemüht sich seit langem, Mandarin als offizielle Unterrichtssprache an Schulen einzuführen, und verärgert damit die Mehrheit der Kantonesisch sprechenden Menschen in der Stadt. 2015 wurden fünf Mitarbeiter der in Hongkong ansässigen Buchhandlung »Causeway Bay Books« entführt, weil sie Bücher über China und insbesondere über das Privatleben Xi Jinpings verkauft hatten. Dieser Vorfall zeigte bereits an, dass der Konflikt zwischen der chinesischen Diktatur und den Freiheitsbestrebungen in Hongkong unvermeidlich geworden war. Schließlich brachte das Auslieferungsgesetz Anfang 2019 das Fass zum Überlaufen (von Hongkongs Regierung geplantes Gesetz, das vorsah, dass Tatverdächtigen aus Hongkong, denen Verbrechen in China vorgeworfen werden, auch dort der Prozess gemacht werden kann; im Oktober 2019 offiziell zurückgezogen, Anm. d. Red.).

Waren das alles Reaktionen auf die chinesische Politik?

Richtig. Eigentlich sind die Menschen in Hongkong relativ unpolitisch. Es war die wachsende Aggressivität und Uneinsichtigkeit Pekings, die eine konformistische Bevölkerung in Demonstrantinnen und Demonstranten verwandelte.

Aber Hongkong hatte doch bereits 2003 und 2014 Massenproteste erlebt. Haben die gegenwärtigen Kämpfe auf diesen Erfahrungen aufgebaut?

Politisch war der Aufstand von 2019 durchaus eine Fortsetzung der sogenannten Regenschirm-Bewegung von 2014. Auch damals ging es um freie Wahlen. Doch in Hinblick auf die Mittel war der Aufstand von 2019 ein völliger Bruch. In den Jahren 2003 und 2014 gab es keine Ausschreitungen. Zwar wurden 2014 die Hauptstraßen in den Geschäftsvierteln 79 Tage lang besetzt, aber alles verlief sehr friedlich. Beim Aufstand von 2019 war das anders. Er war eine wütende Reaktion auf das Scheitern der bisherigen friedlichen Proteste. Vor allem Jugendliche lehnten Methoden wie Besetzungen bewusst ab und wählten ein Art Stadtguerillataktik mit hoher Mobilität und flexiblen Blockaden.

Welche politischen Kräfte gibt es traditionell in Hongkong?

Zunächst eigentlich nur die konservative Volkspartei KMT (Kuomintang) und die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Nach und nach verloren sie aber die Bindung an die Bevölkerung der Stadt und Ende der achtziger Jahre entstand die erste lokale Demokratiebewegung. Doch die blieb schwach. Bereits in der Regenschirm-Bewegung von 2014 waren es vor allem einfache Demonstrantinnen und Demonstranten, die für Autonomie kämpften.

Wie setzte sich die Protestbewegung denn zusammen?

Eine Untersuchung ergab, dass rund zwei Drittel der Protestierenden aus der Mittelklasse kamen und ein Drittel aus der Unterklasse. Die Beteiligung der Oberklasse war vernachlässigbar. Man darf jedoch nicht den Fehler begehen, Angehörige der Mittelklasse für Menschen mit fester Anstellung und guter Bezahlung zu halten, vielmehr findet man auch in Hongkong starke Prekarisierungstendenzen.

Wichtiger erscheint mir jedoch das Alter der Beteiligten. Spätestens die Bewegung von 2014 war maßgeblich von Jugendlichen geprägt – mit all ihrer Ungeduld und gelegentlich auch Fehlern. Der Aufstand von 2019 war ebenfalls ein Aufstand der Jugend, doch er war auch mehr als das. Während gut 40 Prozent der Bevölkerung die Protestbewegung unterstützt hatten, waren es 2019 bis zu 70 Prozent. Auf dem Höhepunkt der Bewegung schlossen sich zwei Millionen Menschen den Protesten an. Was die Menschen vereinte, waren die »Fünf Forderungen«, darunter die Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, die Freilassung verhafteter Demonstrantinnen und Demonstranten und das allgemeine Wahlrecht für ihr Parlament.

Die Breite der Bewegung spiegelte sich auch in der Beurteilung wieder. Die einen sprachen von einer Befreiungsbewegung, andere hielten die Protestierenden für fremdenfeindlich oder rassistisch. Sie haben die Bewegung genau beobachtet. Was stimmt?

Beachtenswert erscheint mir in erster Linie zu sein, dass die absolute Mehrheit der Demonstrantinnen und Demonstranten aus politischen Neulingen bestand und einfach aufgrund ihrer Überzeugung handelte. Die Bewegung war äußerst vielfältig, neben radikalen und demokratischen gab es auch eher rechte Positionen. Es traten aber immer auch Menschen vor, um diesen zu widersprechen – manchmal erfolgreich und manchmal nicht.

Während der Bewegung gab es auch zahlreiche Arbeitskämpfe.

Ja, zwei Monate nach den ersten großen Protesten und nachdem die Bewegung immer stärker geworden war, kam es am 5. August 2019 sogar zu einem Generalstreik, an dem sich 350 000 Menschen beteiligten (nach Angaben des Gewerkschaftsverbands Hongkong Confederation of Trade Unions, Anm. d. Red.). Dies war der erste erfolgreiche und wirklich lokal geführte politische Streik seit 1949, an seiner Spitze standen Beschäftigte der Luftfahrtindustrie. Auf den Streik wurde mit Entlassungen reagiert, doch ebnete er den Weg für die Entstehung einer neuen Gewerkschaftsbewegung mit Dutzenden Gewerkschaften, die bis En­de 2019 gegründet wurden. Es war das erste Mal, dass Gewerkschaftsorganisationen eine so deutlich wahrnehmbare Rolle in der lokalen Demokratiebewegung spielten.

Gab es auch eine antikapitalistische Strömung bei den Protesten?

Nein, da gab es höchstens Einzelpersonen. In meinem Buch habe ich gezeigt: Die Revolte war politisch radikal, aber sozial konservativ. Die Ideologie der freien Marktwirtschaft dominierte auch in der Bewegung, Fragen nach Verteilungsgerechtigkeit spielten kaum eine Rolle.

Da sich die Proteste gegen die KPCh richteten, wurde der Bewegung in Europa häufig das Etikett »Antikommunismus« verliehen. Ist das berechtigt?

Das ist nicht so einfach zu beantworten. Zum einen hat sich die Bevölkerung Hongkongs gegen die KPCh aufgelehnt, um ihre lokale Autonomie zu verteidigen. Das ist aber kein Antikommunismus. Die KPCh steht für nichts, was dem europäischen Verständnis von Sozialismus oder Kommunismus nahe käme. Sie ist eine kapitalistische Partei, die ein Orwell’sches kapitalistisches Land regiert. Zum anderen hatte die Revolte in Hongkong auch gar kein Interesse daran – und auch nicht die Macht –, das Regime in China zu stürzen. Im Gegensatz zur wirklich antikommunistischen Forderung der alten KMT, fangong dalu (Rückeroberung des Festlands), war die radikale Jugend nur an der Unabhängigkeit vom Festland interessiert.

Dennoch ist es richtig, dass es in Hongkong immer eine soziale Basis gab, die gegen China mobilisiert werden konnte. Hongkong war ja auch sehr erfolgreich darin, sich von einem Freihafen zum drittgrößten Finanzzentrum der Welt zu entwickeln, was den Mythos »Wir sind die freie Welt« noch deutlich bestärkte. Dies machte es von vornherein sehr schwierig, eine eigenständige linke Position im Gegensatz zur KPCh wie auch zur Ideologie des freien Marktes zu entwickeln.

Viele Beobachter der Bewegung waren beeindruckt vom Grad der Selbstorganisation der Menschen auf der Straße. Wie erklären Sie das taktische Wissen und die Militanz der Bewegung?

Jugendliche nutzten die sozialen Medien, um Aktionspläne zu diskutieren und zu beschließen, Künstler gestalteten online Plakate und Karikaturen – sie alle konnten sich in Echtzeit vernetzen. Bei Aktionstagen trafen sich die jungen Demonstrantinnen und Demonstranten dann in zahlreichen Kleingruppen und handelten spontan. Manchmal funktionierte das gut, manchmal nicht, aber dezentrale Aktionen erhöhen eindeutig die Mobilität.

Ist das etwas, was organisierte Linke in Europa von der Bewegung in Hongkong lernen können?

Vielleicht. Auf jeden Fall haben sich Regenschirme bewährt, um sich gegen Pfefferspray zu verteidigen. Die Taktik des »Schwarzen Blocks« mussten wir erst aus Europa übernehmen – haben sie schließlich aber in Hinblick auf Langlebigkeit und Radikalität sogar übertroffen. Unsere be water-Taktik könnte ein weiterer Bezugspunkt sein. Die ­Polizei ist in Ballungsgebieten darauf trainiert, in Formation zu agieren. Durch eine rasche und präzise Eskalation der Gewalt gelingt es ihr meist, Demonstrationen oder Proteste schnell zu zerschlagen. Autonome Kleingruppen und spontane Aktionen am Rande von Großdemonstrationen sind für sie jedoch eine große Herausforderung.