Die neue Biographie über Walter Benjamin

Die Lebendigkeit des Geistes

Mit der über 1 000 Seiten umfassenden neuen Biographie dürfte über Walter Benjamin restlos alles gesagt sein, zumindest über den faktischen Verlauf seines Lebens.

Dass Walter Benjamin heutzutage eine feste Größe in der Geisteswelt ist, zählt zu den Ironien der Geschichte, denn ihm selbst blieb der Zutritt zur Akademie zeit seines Lebens verwehrt. Spross einer wohlhabenden jüdischen Familie, die ihrem talentierten Sohn die bestmögliche Unterstützung zukommen ließ, stand seiner Karriere weniger der Antisemitismus des Kaiserreichs im Wege als die eigene Unkonventionalität, die sich damals noch nicht so zielsicher in Erfolg ummünzen ließ wie heute. 1892 geboren, war Benjamin vom Überdruss der Jahrhundertwendegeneration ergriffen, die sein wenige Jahre älterer Zeitgenosse Georg Lukács auf den Begriff der »transzendentalen Obdachlosigkeit« brachte. Dieselbe Grundstimmung trieb Benjamin in die Arme der organisierten Jugendbewegung, die gegen altpreußische Institutionen rebellierte, durch die Wälder zog und Nietzsche las. Solchem Nonkonformismus folgte während des Studiums, das er 1912 begann, auch die Beschäftigung mit deutschen Romantik, über deren Begriff von Kunstkritik Benjamin schließlich promovierte – selbstverständlich mit einer eher eigenwillige Methodik, die ihm keineswegs die Türen zum Establishment öffnete, da man sie ohne weiteres als unwissenschaftlich abkanzeln konnte. Niemanden wunderte das weniger als Benjamin selbst. Der hatte schon früh über seinen Erzfeind Martin Heidegger gesagt, es sei dessen »nichtswürdige Kriecherei« vor den (theoretischen) Autoritäten, die ihm zu Ruhm verholfen habe, was ein resigniertes Urteil über die Universität nach sich zog: »Die Hochschule ist eben der Ort nicht, um zu studieren.«

Eine Biographie über Walter Benjamin mutiert automatisch zur Sozial- und Ideengeschichte, und dieses Spiel mit den Genres gelingt Eiland und Jennings hervorragend.

All das kann man nachlesen in der jüngst erschienenen Biographie des Literaturprofessors Howard Eiland und des Philologieprofessors Michael W. Jennings, die zu Recht den einfachen Titel »Walter Benjamin« trägt, weil sie sowohl Leben als auch Werk desselben in einem mehr als 1 000 Seiten umfassenden Buch zusammenbringt. Eiland und Jennings lassen gerade in Hinblick auf die zwanziger Jahre kaum ein Detail aus, eine Zeit, die Wolfram Eilenberger »Zeit der Zauberer« genannt hat, weil sie einerseits viele der Denker hervorgebracht hat, die auch heute noch viel rezipiert werden, andererseits unverkennbar einen Hang zum Esoterischen besaß, der auch Benjamin nicht fehlte. Als Produkt der Epoche war er von Unzufriedenheit mit der geistigen Ausrichtung jener Jahre geprägt, welche er als technikfixiert und abstrakt empfand. Die verbreitete Kritik an der instrumentellen Vernunft übertrug Benjamin auf die Sprache: Diese sei nicht nur ein nützliches Mittel, um Informationen auszutauschen, sondern ein Reich sui generis, in dem sich mit der richtigen ideellen Einstellung die mate­riellen Schätze der geistigen Tradition bergen ließen – ein merkwürdiges Verfahren, das er mit der Beweglichkeit einer Raubkatze verglich und mal als die Produktion von »Denkbildern« bezeichnet hat, mal als »dialektische Feerie«.

Dass er posthum zum weltweit verehrten Denker aufstieg, verdankte Benjamin nicht nur der Tatsache, dass er als einer der Ersten über populäre Phänomene wie den Rausch oder den Film philosophierte, sondern auch, dass er von den Nazis in den Tod getrieben wurde. Bis das Drama seiner letzten Jahre anbrach, verlief Benjamins Leben aber eher unspektakulär und wäre nicht sehr erzählenswert, gäbe es das Geistige nicht, denn auf diesem Gebiet war der Denker umso reger. Eine Biographie über Benjamin mutiert daher automatisch zur Sozial- und Ideengeschichte, und dieses Spiel der Genres gelingt Eiland und Jennings hervor­ragend. Jeder Gedankenschritt wird sorgfältig aus der kulturellen Um­gebung herausgehoben, über die man Unmengen erfährt, ohne dass die Autoren darum viel Aufhebens machen würden: Der Leser erfährt, was ein Feuilleton ist, was an der Frankfurter Stiftungsuniversität besonders war, und auch, was Gottfried Benn so geschrieben und gedacht hat, aber er wird nicht gezwungen, sich auf eitel dargebotene Nebengeschichten einzulassen.

Die gelungenen Einordnungen überwiegen auch im theoretischen Bereich, und wenn Jennings und ­Eiland die übliche Richtung ändern, also das historische Geschehen aus der Literatur heraus erklären, wird es besonders interessant: Wie sie einmal eine etwas komplizierte Affäre Benjamins, die zu einem Partnertausch wird, aus Goethes »Wahlverwandtschaften« ableiten, wo sich eine vergleichbare Kreuzbeziehung entspinnt, und dabei zugleich Ben­jamins eigenen Aufsatz über Goethes Roman besprechen – das ist bewundernswert.

Natürlich wird auch die Gretchenfrage gestellt. Denn wie bei jeder guten Entwicklungsgeschichte lässt sich auch in dieser ein Wandel feststellen, gibt es ein Früh- und ein Spätwerk und zankt man sich noch heute über das Wesen des wahren Benjamin. Das liegt daran, dass Benjamin Mitte der zwanziger Jahre die kommunistische Theaterregisseurin Asja Lācis kennenlernte und – bei der gegebenen Affinität zu Heilsgeschichten nur verständlich – schnell unter den Einfluss des revolutionären Materialismus geriet, später auch ein Freund von Bertolt Brecht wurde, ehe er zuletzt eine intensive Kooperation mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung einging. Inzwischen im Exil und auf der Flucht vor den Nazis, entwickelt sich unter den Beteiligten eine bis zuletzt andauernde, hauptsächlich in Briefen ausgetragene Diskussion über den Marxismus. Während Horkheimer und Adorno an Benjamins Aufsätzen das Fehlen dialektischer Vermittlung kritisierten, verteidigte dieser sein sehr eigenes Verfahren und drängte im Gegenzug das Institut zum eindeutigeren politischen Bekenntnis. Noch heute findet diese Auseinandersetzung statt: Ist die Wahrheit wichtiger oder der richtige Standpunkt?

Eiland und Jennings lösen den ­Widerspruch auf, indem sie die Kontinuität im Werk Benjamins betonen und Partei für das ergreifen, was sie seinen »allegorischen Materialismus« nennen, der dem dialektischen widersprechen müsse. Für diese ­Position reklamieren sie gegen das »einmischende Diktat« vor allem Adornos eine Meinungsfreiheit, ­deren Gültigkeit in der Philosophie etwas fragwürdig erscheinen mag; aber da sie über Benjamin schreiben, ist dieser Zug nur zu berechtigt, weil im Einklang mit dessen eigener, etwas beratungsresistenter Einstellung zur theoretischen Verbindlichkeit. Auch an dieser heiklen Stelle vermeiden sie jede steile These und verlassen sich ganz auf ihren Gegenstand, dessen Genese sie so gewissenhaft darstellen, wie ihr Werk ­offensichtlich auch für den wissenschaftlichen Gebrauch gedacht ist.

Weil auf diesem Weg wirklich der Gesamtzusammenhang eines geistigen Lebens dargestellt wird, verdient die Biographie das Ehrenadjektiv »monumental«. Keiner, der in Zukunft eine Hausarbeit über Walter Benjamin schreiben will, wird an diesem Buch vorbeikommen, niemand auf das nützliche chronologische Nachschlagwerk verzichten wollen, in dem minutiös aufgeschlüsselt ist, was Benjamin dachte und wen er traf, als er gerade diese oder jene Schrift abfasste.

Für Liebhaber von Einbänden ist es mit einem abnehmbaren Cover ausgestattet, das ein koloriertes Foto von Benjamin zeigt, wie er melancholisch in einem Garten steht und an einer Blume riecht, die so rot ist wie die Krawatte, die er im August 1927 in Paris auf einer Massenkund­gebung gegen die Hinrichtung der Anarchisten Sacco und Vanzetti trug. Und damit wäre man bei den vielen Schwarzweißfotos im Inneren, die den Leser auf eine Art zum intimen Freund des Protagonisten werden lassen, auch wenn das Buch es nicht darauf anlegt; eher nebenbei enthält es die Passbilder seiner Weggefährten und zeigt die Gemälde, die Benjamin wichtig waren.

Es lohnt sich also. Aber man kann sich fragen, ob derartiges Schreiben über die Philosophie genug ist? Abgesehen davon, dass die sich abwechselnden Episoden von Manie und Krise sowie die ewige Suche nach Publikationsmöglichkeiten auch in ­einem glänzend geschriebenen und sehr gut übersetzten Buch auf Dauer ermüden, darf auf der Grundlage von Benjamins Philosophie angezweifelt werden, dass dieselbe ehrt, wer nur schlicht nacherzählt, wie Benjamin selbst gelebt und gedacht hat. Die Biographie, die das Autorenduo vorgelegt hat, zeigt ganz allgemein die Grenzen der Sekundärliteratur über Philosophie auf: Sie kann und will nicht werden, wovon sie handelt. Diese Lücke der Reflexion schließt sich nur, indem zum Denken ein Eigeninteresse hinzutritt: Über eine Idee schreibt nur, wer selber keine hat, und die falsche Bescheidenheit der gebildeten Welt besteht in selbstbewussten Verzicht auf diese Dimension.

Dürfte man jetzt, nachdem von Eiland und Jennings restlos alles über das Leben des Philosophen gesagt wurde, eine Maxime für die weitere Auseinandersetzung mit Benjamin aufstellen, könnte sie daher lauten, dass es nichts mehr hergibt, über den Tigersprung zu schreiben, wenn man nicht selbst bereit ist, wie ein Tiger zu springen.

Howard Eiland, Michael W. Jennings: ­Walter Benjamin. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Irmgard Müller und Ulrich Fries. Suhrkamp, Berlin 2020, 1021 Seiten, 58 Euro