Im Gespräch mit Verónica Corchado, Sozialarbeiterin und Direktorin des Fraueninstituts von Ciudad Juárez, über den Kampf gegen Femizide

»Wir müssen Pilotprojekte schaffen«

Interview Von Kathrin Zeiske

Vergangenes Jahr wurden 182 Femizide in Ciudad Juárez gezählt. Die Stadtregierung will nun das verwahrloste Zentrum in einen Sicherheitskorridor verwandeln und dafür Stadtplanung aus dezidiert weiblicher Perspektive betreiben.

Am 18. Januar jährt sich der Mord an der jungen Künstlerin und Akti­vistin Isabel Cabanillas, der voriges Jahr international Wellen schlug. Gibt es Untersuchungsergebnisse in dem Fall?

Ich fürchte nicht. Ich kannte Isabel persönlich, unter anderem durch meine Arbeit im Fraueninstitut der Stadt. Es ist unsagbar schrecklich, was Isabel widerfahren ist. Im vergangenen Jahr hatte ich insgesamt drei Treffen mit der Staatsanwältin für Gewalt gegen Frauen, um über den Fall zu sprechen. Wir müssen Allianzen zwischen den Institutionen bilden, um umfassend handeln zu können. Jedes Mädchen und jede Frau muss in ihren Rechten geschützt und verstanden werden. Wir wollen keine Frauenmorde mehr in ­Ciudad Juárez.

Im vorigen Jahr wurden in Ciudad Juárez 182 Frauenmorde begangen. Damit führt die Industriemetropole die Liste der Städte mit den meisten Femiziden in Mexiko an. Doch auch im Rest des Landes sehen die Zahlen nicht gerade rosig aus …

Es ist eine furchtbare Entwicklung. Landesweit gibt es nun nicht mehr sieben, sondern elf Femizide am Tag. Da fehlen mir die Worte. Was hilft es da, Hypothesen aufzustellen? Es dürfte einfach nicht geschehen. Frauen und Mädchen, die deswegen protestieren, sind völlig im Recht. Es sind ihre Körper, auf denen gesellschaftliche Gewalt ausgetragen wird. Es muss etwas geschehen.

Wie kann das städtische Frauen­institut, dem Sie vorstehen, Femiziden entgegenwirken?

Für uns ist die Präventionsarbeit das Wichtigste. Aber dabei lassen sich ­gewiss keine schnellen Resultate erzielen. Misogynie und Gewalt gegen Frauen sind tief verwurzelt in der Gesellschaft und verschwinden nicht über Nacht. Die Institutionalisierung dieses Anliegens gewährt eine ge­wisse Kontinuität, um die Perspektiven, Erfahrungen und Bedürfnisse von Frauen zu sammeln und mit einzubeziehen. Für eine qualitativ hochwertige psychologische und juristische Begleitung für Frauen gab es vor fünf Jahren keinerlei Infrastruktur. Heute ­haben wir einen gut sichtbaren und öffentlich zugänglichen Hauptsitz mitten im historischen Zentrum. Daneben gibt es einen Standort in Riveras del Bravo und vier weitere in den südöstlichen Ausläufern der Stadt, wo winzige Reihenhäuser des sozialen Wohnungsbaus Schlafstädte am Rande der Wüste bilden. Fernab von Schulen, Krankenhäusern, Parks wohnen dort migrantische Familien, die in den ­maquilas (Montagefabriken, Anm. d. Red.) arbeiten.

Das größte Projekt des Fraueninstituts ist der »Sicherheitskorridor für Frauen«. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Das Konzept des Sicherheitskorridors greift das Recht auf eine sichere Stadt durch eine integrale Gewaltprävention im öffentlichen Raum auf. Und das an einem Ort, der in Bezug auf Entführungen von Frauen und Mädchen traurige Bekanntheit erlangt hat, dem Zentrum der Stadt, das voll ist von Geschäften, Markthallen, Straßenständen, mobilen Händlern, Bars, Hotels, Schnellküchen und Restaurants. Es sind die ersten Baumaßnahmen in Ciudad Juárez und vermutlich in ganz Mexiko, die aus einer weiblichen Perspektive auf die Stadt geplant sind und die Bedürfnisse von Frauen in den Mittelpunkt stellen. Es wurden Polizeiposten installiert, die ausschließlich mit Polizistinnen besetzt sind. Außerdem wurden zahlreiche Notrufsäulen mit Alarmknöpfen, frei zugänglichem W-Lan und Kameras aufgestellt und öffentliche Toiletten gebaut. Vorher gab es nur sehr schlecht einsichtige Anlagen in Hinterhäusern und auf der Rückseite von Märkten. Unterstützt wird das Sicherheitskonzept durch eine App, die in Notsituationen auf ein Schütteln des Handys reagiert.

»Der Sicherheitskorridor ist vermutlich das erste Bauprojekt in ganz Mexiko, das aus einer weiblichen Perspektive auf die Stadt geplant ist und die Bedürfnisse von Frauen in den Mittelpunkt stellt.«

Weitere Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, dem verrufenen Zentrum neue Lebensqualität zu geben: Fahrradwege und Kulturveranstaltungen – alles, was diese von den Institutionen so vergessene Stadt verdient. Wir müssen Pilotprojekte schaffen, denn es gibt kaum Vorbilder, auf die wir zurückgreifen können.

In der Coronakrise war das sonst so belebte Zentrum über Wochen und Monate hinweg spärlich frequentiert. Wie hat das die Arbeiten beeinflusst?

In Bezug auf den Sicherheitskorridor hat es uns die Möglichkeit gegeben, fast 50 Polizeikräfte in Dreiergruppen weiterzubilden und für den Umgang mit Belästigung auf der Straße zu sensibilisieren. Denn bisher erfährt, wer sich an die Polizei wendet, in der Regel eine Reviktimisierung. Oft verweigern die Polizisten sogar, eine Anzeige aufzunehmen. Für uns ist es sehr wichtig, mit den Polizeibehörden zusammenzuarbeiten, um einen Dialog über öffent­liche Sicherheit für Frauen zu etablieren. Denn nicht alle Beamten sind korrupt und den Drogenkartellen hörig. Wenn wir ihnen zuhören, hören sie uns auch zu.

Wie hat sich die Arbeit des Fraueninstituts durch die Covid-19-Pandemie verändert?

Wir mussten ganz neue Strategien entwickeln und sind nun weit mehr in den sozialen Medien vertreten als zuvor. Dadurch konnten wir ein viel breiteres Publikum erreichen als vor der Pandemie. Unsere Videokonferenzen zu Themen rund um Selbsthilfe und häusliche Gewalt haben 30 000 Menschen erreicht. Um auch im Lockdown psychologische und juristische Begleitmaßnahmen aufrechtzuerhalten, haben wir unsere Arbeitsweisen und Servicezeiten vollkommen an die Möglichkeiten unserer Klientinnen angepasst. Denn diese waren in der Mehrheit der Fälle 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche mit ihren Aggressoren eingesperrt. Unsere Mitarbeiterinnen haben Videoanrufe um Mitternacht oder im Morgengrauen getätigt, wenn die Männer schliefen, oder sich vor dem Supermarkteinkauf mit den Frauen auf einem Parkplatz getroffen. Mit allen Frauen wurde beim Erstkontakt ein Plan aufgestellt: Wie, wann und wo ist es dir möglich, in aller Ruhe zu reden? Wenn wirklich nur Textnachrichten funktionieren, dann kann eine Therapie auch so stattfinden. Wir haben innovative Konzepte entwickelt und wollen diese auch öffentlich vorstellen, damit andere Einrichtungen sie übernehmen können.

Hat die Gewalt gegen Frauen durch die Auswirkungen der Pandemie zugenommen?

Definitiv. Eine weitere Auswirkung der allgegenwärtigen und systematischen Gewalt gegen Frauen in der Stadt, aber auch der derzeitigen finanziellen Unsicherheit und gesellschaftlichen Isolation sind Selbstmorde. Unsere Psychologinnen stellen Suizidgedanken unter Frauen in rasant zunehmendem Maße fest. Denn diese sind von klein auf mit häuslicher und sexueller Gewalt konfrontiert. Gleichzeitig müssen sie er­leben, dass ihr Handlungs- und Entwicklungsspielraum stark limitiert wird. Fliehen sie aus ihrem gewalttätigen Elternhaus auf die Straße oder in eine Beziehung, erleben sie dort oft Ähnliches. Leider blickt die Stadt durch die Präsenz der Drogenkartelle, die ­Militarisierung und die Ausbeutung in den maquilas auf eine lange Geschichte der Gewalt zurück. Über Jahrzehnte hat dies in Familien, Gesellschaft, Verwaltung und Politik schwere Schäden verursacht.

Wie ist es möglich, diese Entwicklung aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen?

Wir versuchen, sehr strategisch Räume und Akteure in den Blick zu nehmen, um Präventionsarbeit zu leisten. Ist ein Femizid passiert, ist es zu spät. Es gilt, ihn zu verhindern. Also zum Beispiel eine Stadtentwicklung voranzutreiben, die Leerstand und brachliegende Gelände beseitigt, denn diese tragen zur Unsicherheit im öffentlichen Raum bei. Gerade in den marginalisierten Ausläufern der Stadt im Südosten werden die Leichen der Ermordeten abgeladen. Frauen und Mädchen müssen diese Areale auf dem Weg zur Schule und zur Arbeit passieren, oft im Dunkeln. Auch Isabel Cabanillas wurde neben einer solchen Brache erschossen, die auch im Zentrum vielfach zu finden sind.

Außerdem gilt es, Gesetze und Abkommen voranzutreiben; zum Beispiel ein Gesetz, das es ermöglicht, sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum als Ordnungswidrigkeit zu behandeln und bei Wiederholung Sozialstunden zu verhängen oder Therapie anzuordnen. Oder ein Abkommen mit den verschiedenen Transportunternehmen in der Stadt, Bussen und Taxidiensten wie Uber. Wie können Frauen diese ­sicher nutzen, ohne Übergriffe und Entführungen fürchten zu müssen? ­Unsere Erfolge werden wir nicht in fünf und nicht in zehn Jahren sehen, sondern sehr viel später. Deshalb ist es von enormer Wichtigkeit, dass das Fraueninstitut und der Sicherheitskorridor auch von den folgenden Stadtregierungen weiter gefördert werden, egal ­welcher Kandidat oder welche Partei die Wahlen im Juni gewinnt.
 

Verónica Corchado ist seit 2016 Direktorin des städtischen Fraueninstituts von Ciudad Juárez und gehört der Stadtregierung des parteiunabhängigen Bürgermeisters Armando Cabada an. Zuvor war sie jahrelang als ­Sozialarbeiterin in zivilgesellschaftlichen Projekten tätig, um die Mütter verschwundener Frauen und Mädchen zu unterstützen. In der mexikanischen Industriemetropole an der Grenze zu den USA prägten Akademiker­innen Anfang der neunziger Jahre den Begriff »Femizid«, der heutzutage weltweit genutzt wird, um die Ermordung von Frauen aus misogynen Motiven zu bezeichnen. Damals wurden Industriearbeiterinnen der Montagefabriken systematisch entführt, vergewaltigt und ermordet. Auch Corchado arbeitete einst in einer dieser Fabriken und erlebte, wie Frauen in ihrem Viertel ermordet wurden. In den meisten der schätzungsweise 2 000 Fälle von Femizid, die seit 1993 in der Stadt stattgefunden haben, herrscht Straflosigkeit. Längst ist klar, dass die Mörder nicht immer Angehörige der Drogenkartelle sind, sondern vielfach Partner und ehemalige Partner.