Das Urteil im Prozess zum Mord an Walter Lübcke

Kein Interesse an Netzwerken

Im Prozess gegen die Neonazis Stephan E. und Markus H. wegen der Ermordung Walter Lübckes steht das Urteil an. Wichtige Fragen, etwa zu einer möglichen Verbindung zum NSU-Komplex, bleiben jedoch offen.

Es geht um den ersten rechtsextrem motivierten Mord an einem deutschen Politiker nach 1945. Die öffentliche Auf­merksamkeit war entsprechend groß, als am 16. Juni 2020 die Hauptverhandlung im Fall der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main begann. Knapp zwei Jahre nach dem Ende des NSU-Prozesses wurde bereits wieder über Rechtsterrorismus in Deutschland zu Gericht gesessen. Dies hätte eine große Gelegenheit sein können, gerade auch da es eine Vielzahl personeller, struktureller und ideologischer Überschneidungen zwischen beiden Verfahren und den ihnen zugrunde liegenden Straf­taten gibt. Sie wurde aber nicht ergriffen. Nun steht das Urteil im Prozess bevor, doch die öffentliche Aufmerksamkeit für den Fall Lübcke ist geschwunden – was auch daran liegen könnte, dass nach Lübckes Ermordung mit den Anschlägen von Halle und Hanau zwei weitere rechtsextreme Mordtaten von großer Tragweite geschahen.


E.s Anwälte sagten, ihr Mandant habe nicht heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen getötet, sondern »im Irrglauben, im Allgemeininteresse zu handeln«.

In der Nacht zum 2. Juni 2019 war Walter Lübcke (CDU) auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-­Istha (Kreis Kassel) erschossen worden. Lübcke hatte sich als Regierungspräsident öffentlich für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen im Bezirk Kassel eingesetzt und sich damit viele Feinde gemacht. 2015 hatte er an einer Informationsveranstaltung anlässlich der Einrichtung einer Erstaufnahmeunterkunft in Lohfelden teilgenommen. Im Verlauf hatte er Anhänger des Kasseler Pegida-Ablegers, die die Veranstaltung gestört hatte, darauf hingewiesen, dass sie »jederzeit dieses Land verlassen« könnten, wenn sie nicht einverstanden seien. Markus H., wegen Beihilfe zum Mord angeklagt, hatte damals die Äußerungen Lübckes gefilmt, online verbreitet und so eine bundesweite Welle des Hasses und der Morddrohungen gegen Lübcke pro­voziert. Der wegen Mordes angeklagte Stephan E. hatte das Video an seine Mutter und an Arbeitskollegen verschickt. In einem Geständnis gab er an, die Szene in Lohfelden habe ihn zur Tat erst motiviert.

Aufgrund einer DNA-Spur und weiterer Beweisstücke wurden E. als mutmaßlicher Täter und sein Freund H. als mutmaßliche Unterstützer ermittelt. Die Bundesanwaltschaft forderte in ihrem Schlussvortrag für E. lebenslange Haft, die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und Sicherungsverwahrung, für H. wegen Beihilfe neun Jahre und acht Monate Haft. Gegen E. wird zudem auch wegen versuchten Mordes und Körperverletzung an Ahmed I. verhandelt. E. steht unter Verdacht, vom Fahrrad aus am 6. Januar 2016 in Lohfelden I. mit einem Messer in den Rücken gestochen zu haben, der Iraker wurde schwer verletzt; der Angeklagte streitet die Tat ab.

Zum Mord an Lübcke lieferte E. unterschiedliche Versionen des Hergangs, insbesondere was den Ablauf und seine eigene Rolle dabei angeht. Im Ermittlungsverfahren hatte er zwei sich widersprechende Geständnisse abgelegt, während des Prozesses im August 2020 ein drittes. In der ersten Version drei Wochen nach der Tat bezeichnete er sich als Alleintäter, zwei Monate später zog er sein Geständnis zurück und behauptete dann in der zweiten Version, er sei mit H. zu Lübckes Haus gefahren, um diesen einzuschüchtern. H. habe die Waffe gehalten, aus der sich dann ein Schuss gelöst habe.

Vor Gericht sagte E. schließlich in einem weiteren Geständnis, er und H. hätten den Mord an Lübcke gemeinsam minutiös geplant, beide seien am Tatort, er selbst aber sei der Todesschütze gewesen. Diese Version bestätigte E. mehrfach. Allerdings haben die sich widersprechenden Geständnisse E.s Glaubwürdigkeit untergraben. Zudem hielt er sich sehr bedeckt, was konkrete Hintergründe der Tat, weitere Unterstützerinnen und Unterstützer oder Netzwerke angeht. Von einer »Lebensbeichte«, die etliche Medien in E.s drittem Geständnis sahen, kann keine Rede sein; vielmehr inszenierte sich E. als Opfer von Gewalt durch seinen ­Vater und migrantische Jugendliche in seiner Kindheit und Jugend. H. schwieg bis zuletzt. Er war im Oktober aus der Untersuchungshaft entlassen worden, dem Gericht zufolge war er zu dem Zeitpunkt »nicht mehr verdächtig, sich der Beihilfe strafbar gemacht zu haben«.

E. und H. gehören seit Jahrzehnten zum militanten Nazimilieu Kassels und Nordhessens. E. war Mitglied der NPD, des »Freien Widerstands Kassel« sowie der »Artgemeinschaft« und hatte Kontakte zu Mitgliedern des rechtsextremen Netzwerks Blood & Honour. H. war Mitglied der »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei« und der »Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige«. E. ist mehrfach vorbestraft, seine rassistischen und rechtsextremen Gewalttaten lassen sich von einem Brandanschlag auf Migranten 1989 über ein versuchtes Rohrbombenattentat und Körperverletzungen bis hin zur Beteiligung am Angriff von 400 Neonazis auf eine Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Dortmund am 1. Mai 2009 nachzeichnen. Danach nahm seine »Aktionsorientierung« ab, weswegen die Behörden zu der fatalen Fehleinschätzung kamen, E. sei »abgekühlt« und stelle keine Gefahr mehr dar. Doch antifaschistische Rechercheplattformen wie Exif konnten belegen, dass E. weiterhin seine Kontakte pflegte und sich politisch betätigte: So hängte er zur Landtagswahl in Hessen 2018 AfD-Plakate auf und nahm mit H. am 1. September 2018 in Chemnitz am »Trauermarsch« von Pro Chemnitz, AfD und diversen rechtsextremen Gruppen teil, aus deren Mitte Gewalttaten begangen wurden.

Gegen H. steht nach Auffassung des Gerichts zumindest der Verdacht des Verstoßes gegen das Waffengesetz weiter im Raum. In seinem Besitz fand die Polizei eine Dekorationswaffe, die Maschinenpistole war jedoch nicht ausreichend schussunfähig gemacht worden. Die Bundesanwaltschaft sowie die Frau und Söhne Lübckes, die als Nebenkläger im Verfahren auftreten, halten daran fest, dass H. E. in seinem Tatentschluss bestärkt habe, ihm das Schießen beigebracht habe und mit ihm am ­Tatort gewesen sei.

Der Anwalt des Nebenklägers Ahmed I., Alexander Hoffmann, sagte in einem Interview mit dem Spiegel, er rechne damit, dass E. vom Vorwurf des Mordversuchs an seinem Mandanten freigesprochen werde. Zwar wurde in E.s Haus ein Messer mit DNA gefunden, die einem Sachverständigen zufolge Merkmale aufweist, die in Deutschland ungewöhnlich, bei Irakern wie Ahmed I. aber verbreitet sind. Doch dem Experten zufolge ist die DNA-Sequenz unvollständig, die Indizien sind eher schwach. I. kämpft seit fast fünf Jahren darum, dass der Angriff auf ihn als rechtsextreme Tat anerkannt wird. Der Angriff, bei dem der Täter mit dem Messer drei Wirbel und das Rückenmark verletzte, habe sein Leben zerstört, sagte er vor Gericht.

E.s Anwälte Mustafa Kaplan und Jörg Hardies sagten in ihren Abschluss­plädoyers, ihr Mandant habe nicht heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen getötet, sondern »im Irrglauben, im Allgemeininteresse zu handeln«. Deswegen handele es sich auch nicht um Mord, sondern um Totschlag; die Tat habe »kein egoistisches Motiv«. Mit dieser Behauptung wollen sie, sollte ihr Mandant dennoch wegen Mordes verurteilt werden, eine sich möglicherweise an die Höchststrafe anschließende Sicherungsverwahrung verhindern.
Der Prozess konnte insbesondere zur Frage nach Mittätern, Mitwissern und der Verbindung zu rechtsextremen Netzwerken nicht die von den Nebenklägerinnen und Nebenklägern erhoffte Klarheit bringen. Weitere Zeugenbefragungen und Ermittlungen im nordhessischen Neonazimilieu wären dazu nötig gewesen.

Die vielfachen Bezüge zum NSU-Komplex blieben außen vor. So hatte E. Kontakt zu dem Kasseler Neonazi M. K., der in der Nähe des Internetcafés wohnte, in dem das NSU-Opfer Halit Yozgat 2006 erschossen worden war. M. K.s Name befand sich auf einer Liste, die ein V-Mann 2008 dem Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme übergeben hatte. Die NSU-Ermittlungskommission wurde so auf M. K. aufmerksam, ging der Spur aber nicht weiter nach, obwohl M. K.s Mobiltelefon der Funkzellenabfrage zufolge in den Tagen um den Mord an Yozgat in der Nähe des Tatorts benutzt wurde. Eine weitere Kasseler Rechtsextreme hatte Verbindungen zum NSU-Trio und zu einem ebenfalls rechts­extremen engen Freund E.s. Walter Lübckes Name stand auch auf einer Todesliste des NSU. Markus H. war im Mordfall Halit Yozgat von der Polizei als Zeuge vernommen worden. Das spielte im Prozess keine Rolle. Vielleicht entwickelt der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags zum Fall Lübcke mehr Aufklärungsinteresse in diese Richtung.