Kritik am Intersektionalismus

Zugleich »weiß« und »nichtweiß«

Intersektionalismus analysiert die Verschränkung von Diskriminierungsformen. Auch für die Antisemitismusforschung kann das hilfreich sein. Das gilt aber längst nicht für alle intersektionalistischen Ansätze. An Ijeoma Oluos Buch »Schwarz sein in einer rassistischen Welt« zeigt sich, was das Problem ist.

Wenn in Deutschland über Intersektionalität gestritten wird, werden häufig mehrere Fragen zugleich verhandelt. Es geht um Identitätspolitik, Critical Whiteness, Triggerwarnungen. Doch schon der Begriff Intersektionalität wird unterschiedlich verwendet, und so stehen sich in den Debatten immer wieder verschiedene Konzepte gegenüber. Ein Teil der Aktivistinnen und Aktivisten, Forscherinnen und Forscher versteht den Begriff Intersektionalität formal als Anspruch, unterschiedliche Diskriminierungsformen in ihrer Verschränktheit zu analysieren und zu bekämpfen. Andere verweisen auf den politischen Ursprung des Konzepts und fordern, sich auf den ­Zusammenhang von Rassismus und Sexismus zu konzentrieren.

Zur ersten Gruppe gehören Nina Degele und Gabriele Winker, die Verfasserinnen der 2009 veröffentlichten Einführung »Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten«. Sie geben sich zuversichtlich, dass die klassischen Kategorien race, class und gender »durch Kategorien wie Sexualität, Nationalität oder Al­ter grundsätzlich« erweitert werden können. Zur zweiten Gruppe gehört die US-amerikanische Autorin Ijeoma Oluo, die in einem neuen Vorwort ihres erstmals 2018 erschienenen Buchs »So you want to talk about race« fordert, das Konzept solle »niemals von den Kernproblemen getrennt werden, die es notwendig gemacht haben, und niemals gegen schwarze und braune Frauen benutzt werden, für die es geschaffen worden ist«. Das Buch erschien 2020 unter dem Titel »Schwarz sein in einer rassistischen Welt. Warum ich darüber immer noch mit Weißen spreche« auf Deutsch.

Beide Interpretationen des Intersektionalismus können sich auf die Definition berufen, die die Bürgerrechtsaktivistin und Juraprofessorin Kimberlé Crenshaw 1989 geprägt hat. »Diskriminierung kann, wie der Verkehr an einer Kreuzung (intersection), in eine Richtung gehen oder in eine andere«, erklärte Crenshaw damals. »Wenn an einer Kreuzung ein Unfall passiert, können ihn Autos verursacht haben, die aus irgendeiner der verschiedenen Richtungen kamen oder, mitunter, aus allen. Damit vergleichbar kann, wenn eine schwarze Frau an einer Kreuzung verletzt wird, die Ungerechtigkeit gegen sie das Ergebnis sexistischer Diskriminierung sein oder rassistischer Diskriminierung.« Im ersten Teil dieser Definition ist allgemein von Diskriminierung die Rede. Im zweiten Teil bezieht sich Crenshaw auf die Situation von women of color in den Vereinigten Staaten, die auch ihre eigene ist.

Besonders heftig wird über die Frage gestritten, inwieweit die Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden in das Konzept der Intersektionalität integriert werden kann. Viele Beschreibungen Oluos lassen sich formal auf die Situation von Jüdinnen und Juden übertragen: das Hineinwachsen in eine antisemitische Welt, die alltäglichen Mikroaggressionen, die Schwierigkeiten, die Bedrohung einem nichtjüdischen Umfeld verständlich zu machen, und so weiter. Intersek­tionale Ansätzen versuchen nicht nur, verschiedene Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen in ihrer Verschränktheit zu verstehen. Sie verknüpfen das auch mit den Alltagserfahrungen der Betroffenen.

An diesem Punkt hat die deutsche Antisemitismusforschung viel nachzuholen. In der 2020 erschienenen Studie »Antisemitismus im Kontext Schule – Deutungen und Umgangsweisen von Lehrerinnen und Lehrern an Berliner Schulen« kritisieren Marina Chernivsky und Friederike Lorenz, dass es bis vor kurzem an »em­pirischer Erforschung von Antisemitismus aus der Sicht« von Jüdinnen und Juden gefehlt habe. Dabei unterschieden sich die jüdischen Erfahrungen »erheblich« von der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft.

Was eine jüdische Identität von der von people of color unterscheidet: Sie muss sich nicht unbedingt offen zeigen. Und genau das wird Jüdinnen und Juden seit Jahrhunderten vorgeworfen. Wie Meike Günther in ihrem Buch »Der Feind hat viele Geschlechter« schreibt, besteht eine besondere Verbindung zwischen Antisemitismus und Homofeindlichkeit, weil Jüdinnen, Juden, Lesben und Schwule ihre angebliche Macht im Verborgenen ausüben. Über Jüdinnen und Juden wird zudem seit mehr als 150 Jahren das Gerücht verbreitet, ihre Geschlechtsidentität sei nicht eindeutig. In antisemitischen Karikaturen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts werden Juden als unmännlich, Jüdinnen als unweiblich dargestellt. Mehr noch: »Den Juden« wird unterstellt, die vermeintlich biologisch gegebene Geschlechterordnung zu zerstören.

Intersektionale Analysen konzentrieren sich nicht nur auf Gemeinsamkeiten und Verknüpfungen, sondern benennen auch Unterschiede. Das Konzept Intersektionalität rea­giert gerade auf die frustrierende Erfahrung, dass der Kampf gegen eine Diskriminierungsform den gegen eine andere nicht automatisch einschließt. Entsprechend ähneln sich die Erfahrungen von schwarzen und jüdischen Feministinnen.

Oluo schildert zu Beginn ihres Kapitels über den Begriff Intersektionalität, wie sie in einen Shitstorm geriet, nachdem sie öffentlich zu Protesten gegen einen frauenfeindlichen afroamerikanischen Musiker aufgerufen hatte. Damit habe sie, so der Vorwurf, schwarze Männer »verraten«. Karin Stögner zitiert in ihrem Buch »Antisemitismus und Sexismus« eine Jüdin, die schildert, wie »Männer, die ich als miese Sexisten verachtete und als Feministin bekämpft hatte«, gegen Antisemitismus Stellung bezogen und so gewissermaßen »zu politischen Helden« wurden. Zwar engagierten diese Männer »sich gegen Antisemitismus, aber sie konnten meine Bündnispartner dennoch nicht sein«.

Zu Ijeoma Oluos subjektiver Schilderung würde es nicht passen, wenn sie über Judenfeindschaft schriebe. Im Vorwort der Originalausgabe geht es an einer Stelle aber doch um Antisemitismus – ohne dass Oluo das Wort benutzt. Sie erinnert an die Auseinandersetzungen über den Women’s March 2019 und kommentiert: »Nachdem ich mehrmals erlebt habe, dass schwarzen und braunen Frauen ein Mangel an Intersektionalität vorgeworfen wurde, weil sie die Bedürfnisse weißer Frauen in ihrem feministischen und sogar antirassistischen Kampf nicht in den Vordergrund stellten – einige Vorfälle schafften es sogar in die Nachrichten, wie die anhaltende Kontroverse über die Führung des Women’s March 2019 –, wurde mir klar, dass ich in Bezug auf die Fähigkeiten derjenigen, die die White-Supremacist-Impulse überwinden wollen, vielleicht etwas zu optimistisch gewesen bin.«

Der Konflikt im Organisationskomitee des Women’s March endete im September 2019 mit dem Ausschluss von Linda Sarsour und anderen aus dem Komitee. Gestritten wurde nicht nur über Israel und die Boykottbe­wegung BDS. Es ging auch um gemeinsame Veranstaltungen der später ausgeschlossenen Organisatorinnen mit Louis Farrakhan, dem Anführer der Nation of Islam, der sich regelmäßig antisemitisch und homofeindlich äußert (Islamophile Querfront gegen Frauenrechte). In seinem Buch »The Secret Relationship Between Blacks and Jews« behauptet Farrakhan beispielsweise, Juden hätten eine führende Rolle im amerikanischen Sklavenhandel gespielt.

Dass Oluo die Kritik an Farrakhan als »White-Supremacist-Impulse« abschmettert, zeugt von außergewöhnlicher Ignoranz. Dass Jüdinnen und Juden in postkolonialen, antirassistischen oder intersektionalen Debatten als »weiß« markiert werden, ist dagegen keine Seltenheit. Dabei führt Oluo am Beispiel der Asian Americans aus, wie beschränkt das Konzept »of color« selbst für die US-amerikanische Debatte ist. Weil die asiatischen US-Amerikanerinnen und -Amerikaner als erfolgreich und integriert gelten, scheinen sie vielen, so Oluo selbstkritisch, von Rassismus und Diskriminierung nicht mehr betroffen zu sein. Oluo nennt das den »Mythos der vorbildlichen Minderheit«. Ist von Rassismus die Rede, würde selten darüber gesprochen, »wie er sich auf asiatische Amerikaner auswirkt«.

Erst recht versagt das Konzept vor der Komplexität jüdischer Geschichte in Europa. In intersektionalen Debatten impliziert die Bezeichnung »weiß« stets, dass die so Bezeichneten zum herrschenden Teil der Gesellschaft gehören und keine Diskriminierung erfahren. Im postfaschistischen Deutschland verbietet es sich, den Begriff in diesem Sinne auf jüdische oder auf Menschen aus Osteuropa anzuwenden, die sich gleichwohl kaum als »nichtweiß« bezeichnen lassen.

In den USA, wo die Begriffe »black« und »white« einen anderen historischen Hintergrund haben, ist es hingegen der White-Supremacist-Mob, der US-amerikanischen Jüdinnen und Juden das Weißsein abspricht. In Südafrika wiederum blieb, wie Larissa Denk in ihrer noch unveröffentlichten Studie »Jubuntu – Giving and Belonging in Jewish Cape Town« zeigt, die Zuordnung »weiß« für Jüdinnen und Juden ambivalent. Obwohl diese meist als »weiß« gelten, würden dadurch die Erfahrungen von Diskriminierung und Ausschluss »ausgeblendet«.

Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Antisemitismus und den verschiedenen Formen des Rassismus besteht gerade darin, Jüdinnen und Juden eine eindeutige Identität abzusprechen. Seit Jahrhunderten wird ihnen unterstellt, überall zu sein, aber nirgendwo dazuzugehören, sich an jedes Milieu anpassen zu können – ein Stereotyp, das beispielsweise Woody Allen in seinem Film »Zelig« 1983 parodistisch aufgegriffen hat. Von Jüdinnen und Juden wird behauptet, zugleich »weiß« und »nichtweiß« zu sein. Das zu verstehen, ist die große Herausforderung für intersektionale Diskussionen über Antisemitismus.

Ijeoma Oluo: Schwarz sein in einer rassistischen Welt. Warum ich darüber immer noch mit Weißen spreche. Aus dem amerikanischen Englisch von Carolin Burmester. Unrast-Verlag, Münster 2020, 240 Seiten, 16 Euro