»Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus« von Oscar Wilde erschien vor 130 Jahren

Mehr als nur Überleben

Wenn von Gemeinschaft geschwafelt wird und die Klimabewegung den Verzicht predigt, sollte man sich den Essay »Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus« von Oscar Wilde vornehmen, der vor 130 Jahren zum ersten Mal erschien.

In einem am 9. Februar vom Deutschlandfunk gesendeten Interview nahm die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann die Coronakrise zum Anlass, um zu behaupten, es sei in Anbetracht der globalen Probleme notwendig, einen »Gemeinsinn als einen sozialen Sinn par excellence« wiederzuentdecken. Den Wert von Gemeinschaft betont Assmann gern, nicht zuletzt in ihrer Theorie der kulturellen Erinnerung. Auch ihr Ehemann, der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann, führt das Wort gern im Munde und diagnostizierte sogar, dass Erinnerungskultur, somit also auch die ­Erinnerung an die Shoah, eine gemeinschaftsstiftende Wirkung habe.

Aleida Assmann zufolge habe aber die »westliche Kultur« mit ihrer ausschließlichen Betonung von »Wettbewerb, Konkurrenz, Autonomie, Singularität des Individuums« zur »Verkümmerung des Gemeinsinns geführt«. Dagegen hält sie ein »Konzept der Mitmenschlichkeit« aus dem »alten Ägypten«, in dem »es um die Zähmung des Menschen zum Mitmenschen« und die Entwicklung von »Empathie« gehe. Solcherlei Zähmung verlaufe über die Entwicklung des Gemeinsinns, weil dieser die Menschen auf das Gemeinsame fokussiere und »das Wohl der Allgemeinheit im Blick« behalte, damit »wir die Menschheit als Überlebensgemeinschaft« denken und dann »auch leben können«. Die Coronakrise sei nur die »Generalprobe für einen weiteren globalen Ernstfall, nämlich die Klimakrise«. Daher sei die »Zeit für mehr Gemeinsinn« gekommen.

Mit Oscar Wilde lässt sich der Vorwurf, Individualismus sei selbstsüchtig, selbst als Form von Selbstsucht und Egozentrik kritisieren.

Die Forderung beispielsweise des ursprünglich kirchlich organisierten Klimafastens, die mittlerweile zum allgemeinen Verhaltenskodex von um die Umwelt besorgter »Mitmenschen« gehört, zeigt, was bei Assmanns Gemeinsinn bedeutet: bewussten Konsum anhand der Frage: »Brauche ich das wirklich?« Denn wo Menschen ihre Entscheidungen an dieser Frage ausrichteten und sich unweigerlich auf die notwendigen Mittel ihrer kreatürlichen Reproduktion beschränkten, verzichteten sie in der Tat auf die Mittel ihrer Individualisierung, begäben sich – ihre Autonomie aufgebend – in den Bannkreis heteronomer, naturerhaltender Zwecke und ließen ab von dem, was die Menschen als Individuen von­einander trennt. Und so würde sich verwirklichen, worauf Assmanns ­Gemeinsinn hinausläuft: eine Menschheit als Überlebens­gemeinschaft – von gezähmten Zombies. Denn sie beraubte sich der Möglichkeiten von Glück, Schönheit und Entwicklung. Diese beginnen erst dort, wo über das »Reich der Notwendigkeit« (Karl Marx) hinausgegangen werden kann, und können nur von autonomen Menschen verwirklicht werden, da nur sie einen Begriff davon entwickeln, Zweck an sich selbst und damit mehr als ein Produktionsmittel ihrer selbst, anderer und der Erhaltung der Umwelt zu sein.

So zielt Assmanns klimabewegter Gemeinsinn darauf ab, von sich als Zweck an sich selbst abzusehen; als das Gemeinsame der Menschen gilt dabei nicht das Vermögen, aus Freiheit Geschichte zu gestalten, sondern die Gebanntheit in bloße Selbsterhaltung unter Bedingungen von Not und Mangel. Die versprochene Empathie ist dann nichts als gegenseitige Überwachung, damit ja keiner aus diesem gesellschaftlich verhängtem Schicksal eines verarmten Lebens auszubrechen versucht.

Einer, mit dem eine sich durch solchen Gemeinsinn selbstverstümmelnde Menschheit entschieden nicht zu haben ist, ist Oscar Wilde. Dass der nahezu vergessen ist, verwundert nicht in Anbetracht des gesellschaftlichen Klimas, in dem zwar jede Twitter-Pöbelei irgendeines AfD-Ortsverbandsmitglieds zum Skandal taugt, aber die Aufforderung Aleida Assmanns in einem Leitmedium, die sowieso schon erniedrigenden Verhältnisse endgültig zu bar­barisieren, unkommentiert bleibt – Assmann ist ja auch nur eine von vielen.

Vor wenig mehr als zehn Jahren bekam Wilde und insbesondere einer seiner Essays erhöhte Aufmerksamkeit, zum Beispiel in Texten von Clemens Nachtmann. Zur Ideologie­kritik herangezogen hat Wilde seither fast niemand. Dabei hält sein im Februar vor genau 130 Jahren in England erstmals veröffentlichter Text »The Soul of Man Under Socialism« (»Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus«) alle Waffen der Kritik bereit, derer es im Kampf gegen postmoderne Ideologie bedarf, so auch gegen Assmanns klimabewegten Gemeinsinn.

Den trifft bereits Wildes Einstieg in seinen Essay, der postuliert, dass der Sozialismus »uns der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu ­leben, enthöbe«. Da Altruismus und Mitgefühl unter privatarbeitsteiligen Verhältnissen stets nur auf Mitleid hinausliefen und an den Verhältnissen nichts ändern könnten, verlängerten sie nur jene schmutzige Notwendigkeit, so Wilde. Weil auch Assmann die Veränderung der Verhältnisse nicht in den Sinn kommt, lässt sich ihr Gemeinsinn als die Introjektion von deren Prinzip verstehen: des erniedrigenden Zwangs, für andere zu leben, eine Verfallsform christlicher Nächstenliebe, die bereits bei Christus, wie Wilde zeigt, stets nur auf das Mitleiden, nie aber auf das Mitfreuen ging.

Assmann und Klimabewegte gehen aber noch einen Schritt weiter. In der spezifischen Ausrichtung auf das Wohl der Allgemeinheit anhand der antiindividualistisch-selbstkontrollierenden Frage »Brauche ich das wirklich?« zielt das umweltumsorgte Mitgefühl darauf, sich die Fähigkeit zur privaten Freude abzugewöhnen.

Auch lässt sich Assmanns Vor­stellung, Autonomie und Individualismus hätten den Gemeinsinn verkümmern lassen, anhand Wildes Bestimmung zurückweisen, »die An­erkennung des Privateigentums hat dem Individualismus wirklich geschadet und ihn getrübt«, weshalb es die Menschen mehr zum Mitgefühl als zum Individualismus tendieren lasse. Es verhält sich vielmehr so, dass der Gemeinsinn sich aus der Resignation heraus entwickelt, die aus der Verkümmerung von Autonomie und Individualismus durch die Produktionsverhältnisse resultiert.

Weil der Gemeinsinn sowohl Abkömmling individuellen Scheiterns in der Konkurrenz als auch ein Versuch ist, dieses Scheitern durch die Aufnahme in eine moralische Kollektivität abzuwehren, lässt sich mit Wilde der Vorwurf, Individualismus sei selbstsüchtig, der Assmanns Gegenüberstellung zugrunde liegt, selbst als Form von Selbstsucht und Egozentrik kritisieren. Zum einen speise sich, so Wilde, der Gemeinsinn aus der Angst, wenn Armut und Leiden einen selbst treffen sollte, werde sich niemand um einen sorgen. Zum anderen sei es nicht selbstsüchtig, das Leben auf »Selbstentwicklung« hin zu gestalten und so »zu ­leben, wie man es sich wünscht«. Vielmehr »heißt Selbstsucht, andere zu bitten, so zu leben, wie man es sich wünscht. Und wer nicht selbstsüchtig ist, lässt anderer Leute Leben in Ruhe, behelligt sie nicht.«

Wilde urteilt weiter, Selbstsucht ziele stets drauf, eine »absolute Uniformität des Typus zu schaffen«. Demnach lässt sich Assmanns jedermann behelligende »Zähmung des Menschen zu Mitmenschen« nicht nur als selbstsüchtiges Abfallprodukt der an sich selbst irre werdenden westlichen Kultur begreifen. Wildes Urteil lässt zudem erahnen, wozu die Wünsche Assmanns und ihrer klimabewegten Adepten führen können, nämlich dass der Mensch sich dahin zurechtstutzt, dass er wahlweise »wie ein schlecht genährtes Tier leben kann« oder weiterhin »der Maschinen Sklave« bleibt und sich selbst mechanisiert. Denn solche Menschen sind in der Tat gezähmt. Als Tier-Maschine begeben sie sich ihrer lediglich als Zerstörung imaginierten Freiheit zur Natur­beherrschung und regredieren in ihren Ansprüchen auf die eines Autos, das lediglich verlangt, was es wirklich braucht: Benzin, um den Motor am Laufen halten, und ab und an eine Reparatur.

Wer glaubt, Wilde hypostasiere die bürgerliche Kälte, der täuscht sich. Im Gegenteil geht es ihm darum, dass wahres Mitgefühl ohne Individualismus überhaupt nicht möglich ist. So läuft sein Essay darauf hinaus, dass erst sich frei entwickelnde Menschen »absolut nicht selbstsüchtig sein« werden. »Mit der Verwirklichung des Individualismus wird der Mensch auch Mitgefühl verwirklichen und es frei und spontan aus­leben. Bis heute hat der Mensch kaum Mitgefühl kultiviert.«

Kultiviertes Mitgefühl sei jenes, das nicht nur bei den Übeln des ­Lebens mitempfinde, »sondern auch bei dessen Freude, Schönheit und Energie, Gesundheit und Freiheit«. Dafür »erfordert es ein sehr feines Wesen«. Und wie Marx in der industriellen Arbeitsteilung die Bedingung revolutionärer Subjektivierung sah, so wird auch bei Wilde die Verfeinerung des Wesens nur möglich durch die Verhältnisse hindurch, die dem entgegenstehen, was sie entwickeln helfen. Und zwar – als kritisch-sympathisches Korrektiv zur Marx’schen Fabrikdisziplin – anhand der künst­lerischen Tätigkeit, in der das selbstzweckhafte Tun einen Vorschein auf ein selbstbestimmtes Leben vermittelt.

Wer hingegen, wie Assmann, in den kapitalistischen Verhältnissen Autonomie und Individualismus als Grund­übel verteufelt und verschweigt, dass es durch jene Verhältnisse ermöglichte Bewusstseinsformen sind, die den Menschen zur Freiheit verhelfen, ist auf dem falschen Dampfer. Denn diese Auffassung trägt dazu bei, die Verwirklichung eines Lebens zu verhindern, in dem Menschen »sich an der Kontemplation des freudigen Lebens anderer erfreuen«.