Ein Gespräch mit Joe Mulhall von der antrassistischen Organisation Hope not Hate über Antisemitismus in Großbritannien

»Wir haben schwierige Jahre vor uns«

Interview Von Doerte Letzmann

In Großbritannien haben Hassverbrechen gegen Juden im Internet seit Beginn der Pandemie stark zugenommen. Im Milieu der Impfgegner und bei Protesten gegen Pandemiemaßnahmen kursieren antisemitische Verschwörungstheorien.

Wie äußerte sich Antisemitismus in Großbritannien vor der Covid-19-Pandemie?
Die Antisemitismusstatistik in Groß­britannien zeigt schon seit einiger Zeit eine besorgniserregende Tendenz. Bereits vor der Pandemie gab es hier online und offline ein hohes Maß an antisemitischer Hasskriminalität. Traditionell ging diese vor allem von der extremen Rechten aus und reichte von antisemitischen Verschwörungstheorien bis zu rechtsextremem Terrorismus. Aber es gibt auch den Antisemitismus der Linken und den Skandal um Antisemitismus in der Labour-Partei. Die Organisation Community Security Trust hat in den letzten zwei, drei Jahren Rekordzahlen an antisemitischen Vorfällen verzeichnet.

Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf diese Entwicklung?
Hassverbrechen gegen Juden außer­halb des Internets sind zurückgegangen, aber online haben sie zugenommen, weil die Menschen mehr Zeit zu Hause und an ihren Computern verbringen. Der Online-Konsum von verschwörungstheoretischen Inhalten ist geradezu explodiert. Sie drehen sich um das Virus, den Lockdown, das 5G-Mobilfunknetz und ähnliche Dinge. In der Anti-Lockdown-Bewegung engagieren sich einige Vertreter antisemitischer Verschwörungstheorien und bringen so einem neuen Publikum antisemitische Themen nahe. Die Zahl der Menschen, die mit antisemitischen Verschwörungstheorien in Kontakt kommen, ist in der Pandemie dramatisch gestiegen.

Welche Form nehmen antisemitische Verschwörungstheorien in der Pandemie an?
Während der Pandemie haben wir einige neue Verschwörungstheorien gesehen, aber auch alte sind wieder aufgetaucht. In Bezug auf Antisemitismus ist es besonders besorgniserregend, wenn eine Reihe verschiedener Verschwörungstheorien in sogenannten Superverschwörungen miteinander verbunden werden, die eine einzige übergreifende Erklärung für all diese verschiedenen Weltereignisse bieten. Wenn Menschen eine einzige übergreifende Erklärung suchen, verlangen sie danach, einen Verschwörer zu identifizieren, und dieser Verschwörer ist unweigerlich das jüdische Volk. Diese Denkweisen greifen auf sehr alte antisemitische Verschwörungstheorien über die jüdische Kon­trolle über die Welt zurück.

Finden sich diese verschwörungstheoretischen Inhalte hauptsächlich im Internet?
Die Verbreitung solcher Inhalte findet nicht nur online statt, sondern auch auf Demonstrationen. Bei einer Demons­tration gegen den Lockdown auf dem Trafalgar Square im Zentrum Londons lauschten 10 00 Menschen David Icke, wie er über die Rothschild-Zionisten sprach. Icke ist einer der wichtigsten antisemitischen Verschwörungstheoretiker in Großbritannien.

Warum glauben Menschen an antisemitische Verschwörungstheorien?
Die Idee einer jüdischen Weltverschwörung, die auch beim Holocaust eine grundlegende Rolle spielte, lässt sich noch immer im gesamten politischen Spektrum finden. Die Annahme, dass die Juden bei weltweiten Ereignissen die führende Hand sind, ist auch mit einem Misstrauen gegen die Eliten verbunden. Hope not Hate hat in ganz Europa Umfragen vorgenommen und festgestellt, dass viele Menschen ihrer eigenen Regierung und den führenden Gruppen ihres Landes nicht vertrauen, was sie anfällig für Verschwörungsdenken macht.

Was kann man dagegen tun?
Um der Verbreitung von Verschwörungstheorien über ominöse Eliten entgegenzuwirken, ist es hilfreich, wenn sich das politische Establishment mit den Anliegen gewöhnlicher Menschen befasst. Wenn Politiker erfolgreich auf deren Anliegen eingehen, dann ist es weniger wahrscheinlich, dass die Leute anderswo nach extremen Alternativen suchen. Die Impfgegnerbewegung ist ein gutes Beispiel. Ihr wurde durch die erfolgreiche Einführung des Impfstoffs in Großbritannien die Grundlage genommen.

Wie passen Impfgegner in die Szene der Verschwörungstheoretiker?
Es gibt eine Verbindung zwischen den Impfgegnern und der rechten Szene. Stephen Yaxley-Lennon, bekannt als Tommy Robinson, eine der wichtigsten rechtsextremen Persönlichkeiten im Vereinigten Königreich, hat seinen Anhängern beispielsweise impfskeptische Inhalte vermittelt. Einige der zentralen Personen der internationalen Impfgegnerszene kommen aus Großbritannien. Glücklicherweise hat die Propaganda gegen das Impfen jedoch keine große Wirkung auf die britische Öffentlichkeit gehabt. Die Akzeptanz des Impfens ist hoch. Das ist zum Teil auf die erfolgreiche Impfkampagne des staatlichen Gesundheitssystems NHS zurückzuführen. Aber schon ein kleines Maß an Impfskepsis stellt ein Problem für die öffentliche Gesundheit dar. Propaganda gegen das Impfen wurde auch unter ethnischen Minderheiten verbreitet, deren Angehörige Impfungen allgemein skeptischer gegenüberstehen.

Wer sind die Protagonisten der Impfgegner und wie antisemitisch sind sie?
In Großbritannien gibt es derzeit keine starke rechtsextreme Partei. Das bedeutet aber, dass es umso aktivere Straßen- und Terrornetzwerke gibt. Und viele davon sind vehement antisemitisch. Wir sehen viele rechtsextreme Aktivitäten auf dem Messenger-Dienst Telegram und in sozialen Medien. Der Antisemitismus, der dort ausgedrückt wird, zum Beispiel in der Chatgruppe Patriotic Alternative, ist eher genozidal als verschwörungstheoretisch. In privaten Chats leugnen diese Gruppen den Holocaust.

Die Holocaustleugner mischen also auch mit?
Ja, wir haben eine sehr starke Holocaustleugnerbewegung in Großbritannien, und das schon seit vielen Jahren. Das liegt zum Teil daran, dass die Gesetze hierzulande, anders als in Teilen der EU, die Leugnung des Holocaust nicht verbieten. Einige der führenden Persönlichkeiten der internationalen Holocaustleugnerszene sind in Großbritannien ansässig.

Finden die Holocaustleugner Resonanz bei der Bevölkerung?
In der Verschwörungsszene ist David Icke eine wichtige Figur. Er füllt ganze Stadien, wenn er Vorträge hält. Viele Leute denken, er sei ein amüsanter Charakter, weil er über Eidechsen spricht, die die Welt regieren. Aber er spricht auch über Rothschild-Zionisten und über Juden. Dass er mit seinen antisemitischen Inhalten Stadien füllen kann, geht weit über alles hinaus, was traditionelle rechtsextreme Parteien bisher bewerkstelligt haben.

In Deutschland vergleichen einige Coronaleugner die Pandemiemaßnahmen mit dem Holocaust. Findet sich dieses Phänomen auch in Großbritannien?
Auch bei Demonstrationen hier tragen Menschen den gelben Stern. Das ist absolut inakzeptabel. Es fällt eindeutig in die Kategorie der Holocaustrelativierung, die Aufforderung, eine Maske zu tragen und während einer Pandemie zu Hause zu bleiben, mit dem systematischen Massenmord an den Juden zu vergleichen. Damit leugnet man die Bedeutung und Einzigartigkeit des Holocaust. Der Holocaust wird zu einem Sammelbegriff für jede Art von Gemeinheit oder Unterdrückung herabgesetzt.

Werden antisemitische Verschwörungstheorien nach der Pandemie so verbreitet bleiben?
Ich denke, wir haben einige schwierige Jahre vor uns. Unseren Umfragen zufolge ist die Zahl der Menschen, die an eine unverhältnismäßige jüdische Macht glauben, besorgniserregend hoch. Es besteht die Gefahr, dass der Aufschwung antisemitischer Einstellung die Pandemie überdauern wird. Umfragen haben auch gezeigt, dass Menschen, die sich mit antisemitischen Verschwörungstheorien beschäftigen, weniger an Demokratie glauben. Dieses Misstrauen untergräbt unsere Institutionen und die liberale Demokratie. Die Kombination mit der Wirtschaftskrise, die der Pandemie aller Wahrscheinlichkeit nach folgen wird, ist besonders gefährlich: Wir wissen aus der Geschichte, dass wirtschaftliche Unsicherheit Vorurteile und eine Politik der Diskriminierung begünstigen kann.