Atmosphärischer Jihadismus in Frankreich

Mörderische Dialektik

Der französische Politologe Gilles Kepel erklärt die »irgendwie hegeliani­sche Dialektik des Jihadismus« anhand der jüngsten Attentate.

Der Killer kam am helllichten Tag. Bereits am vorvergangenen Freitag tötete ein tunesischer Islamist namens Jamel G. in der französischen Stadt Rambouillet nahe Paris die 49jährige Polizeibeamtin Stéphanie M. Im Eingangsbereich des Polizeireviers stach er mit einem Küchenmesser auf sie ein, schnitt ihr die Kehle durch und rief dabei Augenzeugen zufolge »Allahu akbar«. Daraufhin erschoss ihn ein Polizist. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft, so referierte es die FAZ, war er 2009 illegal nach Frankreich eingereist, hatte Videos und religiöse Beiträge des islamistischen Intellektuellen Tariq Ramadan geteilt; nach der Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty im vergangenen Oktober, der im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte, habe er sich demzufolge klar auf die Seite des jihadistischen Täters gestellt. Nach Angaben des Staatsanwalts hat er »seit Herbst 2020 eine Ideologie verbreitet, die Gewalt gegen jene rechtfertigt, die den Propheten beleidigen«.

Jamel G. stammt aus M’saken, einer Stadt mit etwa 55 000 Einwohnern etwa 140 Kilometer südlich von Tunis; aus derselben Stadt stammte Mohamed Lahouaiej Bouhlel, der jihadistische Attentäter, der 2016 in Nizza auf der Promenade des Anglais mit einem Lkw 86 Menschen getötet hatte. Den französischen Geheimdiensten war Jamel G. nicht bekannt.

Dem französischen Politologen Gilles Kepel zufolge könnte er ein Beispiel ­jener Individuen sein, die, geprägt durch die seinerzeitige Propaganda des »Is­lamischen Staats« (IS, Daesh), sich am »atmosphärischen Jihadismus« beteiligen. »Individuen, die – und das scheint für den Moment der Fall des Mörders von Rambouillet zu sein – keiner Organisation angehören, weder al-Qaida, noch Daesh, noch einer anderen. Es gibt keine Auftraggeber.«

Im Unterschied etwa zu den Kouachi-Brüdern, die Anfang 2015 in Paris in der Redaktion von Charlie Hebdo ein Massaker anrichteten, das al-Qaida im Jemen für sich reklamierte, oder den Killern vom Bataclan im Herbst desselben Jahres, die vom IS im syrischen Raqqa angeleitet waren.

Wie Kepel kürzlich in einem Interview mit der Website »Le Grand Continent« skizzierte, lassen sich zunächst drei Phasen des Jihadismus unterscheiden, in einer »irgendwie hegelianischen dialektischen Konstruktion«: In die Phase der achtziger und neunziger Jahre, zunächst mit dem Erfolg in Afghanistan, dann den unfruchtbaren Auswirkungen in Algerien, Ägypten, Bosnien und Tschetschenien, deren Negation mit al-Qaida etwa zwischen 1998 und 2005, die durch eine pyramidale Organisation leninistischen Typs geprägt war und den spektakulären Terror mit medialer Kriegführung durch die Nutzung des Satellitenfernsehens kombinierte; und schließlich der Moment der Aufhebung, der zum IS führte, einer nicht klar umrissenen Organisation, die sich der doppelten Vaterschaft der »zwei Abu Musab« verdankt. Abu Musab al-Zarqawi, der die antischiitische Neuorientierung theoretisierte, und Abu Musab al-Suri, der 9/11 als eine Form der Hybris kritisierte und einen (gesellschaftlichen) Netzwerkjihadismus zwischen den Banlieues Europas und den östlichen und südlichen Ufern des Mittelmeers entwarf, einen Jihadismus, der seit 2005 expandierte und mit dem »Kalifat« des IS zwischen 2017 und 2019 zusammenbrach.

Mit der Pandemie im Jahr 2020 und den Attentaten in jenem Herbst, etwa auf Samuel Paty, sei, so Kepel, etwas entstanden, was man den »atmosphärischen Jihadimus« nennen könnte, der sich, ähnlich wie die Pandemie, viral verbreite. Unklar sei, ob das bereits eine vierte Phase des Jihadismus sei, dazu seien die Ereignisse noch zu neu.

Aber die Themen in der islamistischen Szene sind immer noch dieselben, auch wenn die Organisationsformen sich geändert haben. Insbesondere die Mohammed-Karikaturen, die mit dem französischen Laizismus konform gehen und den angelsächsischen Medien ein Gräuel sind, haben es ihnen angetan: von Pakistan, wo die Islamisten Massendemonstration gegen Frankreich veranstalten, über Killer wie Abdullah Ansorow, den Mörder von Samuel Paty tschetschenischer Herkunft, bis hin zu Jamel G. – überall wird »Blasphemie« geschrien und der Tod gefordert.

Vorige Woche wurden drei Marokkaner in Spanien verhaftet, die auf You­tube, Facebook und Tiktok ihre 19 000 Abonnenten aufgefordert hatten, ­Franzosen anzugreifen. Im Oktober 2020 hatten sie ein Video im südspa­nischen Granada gedreht: Im Namen der Verteidigung des Propheten verbrannte einer von ihnen eine französische Flagge und proklamierte auf Arabisch: »Grüße an alle Muslime, die den Jihad im Namen Allahs führen! Tod den Franzosen!«