Wie die Bundesrepublik dem ­Neoliberalismus zum Durchbruch verhalf

Neoliberalismus made in Germany

Wie die deutsche Regierung auf neoliberale Reformen im Ausland drängte, um die eigene Wirtschaft zu schützen.

Die Beziehung zwischen Neoliberalismus und Deutschland ist alles andere als einfach. 1938 prägte eine Gruppe liberaler Ökonomen, darunter Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, bei einem Treffen in Paris diesen Begriff, der für einen Gegenentwurf zu den zeitgenössischen Alternativen der staatlichen Planung und geschlossenen Wirtschaftsräume stand. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand der Begriff wieder. Viele Länder verfolgten eine vom Keynesianismus beeinflusste Wirtschaftspolitik. Unter Führung der USA wurde ein internationales System ­fester Wechselkurse und Kapitalkontrollen geschaffen, das sogenannte System von Bretton Woods. Der wirtschaftspolitische Konsens war eine Balance aus staatlicher Intervention und Märkten, man sprach vom »eingebetteten ­Liberalismus«.

Selbst Teile der deutschen Linken trugen dazu bei, ein verklärtes Bild eines im Sinne des Gemein­wohls regulierten Kapitalismus zu verbreiten.

Erst nach den wirtschaftspolitischen Umbrüchen unter der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und dem US-Präsidenten Ronald Reagan tauchte der Begriff Neoliberalismus wieder aus der Versenkung auf. Doch wie der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher in seinem kürzlich veröffentlichten Buch »Die politische Theorie des Neoliberalismus« schreibt, sind es seitdem »fast ausnahmslos seine Kritiker, die den Begriff benutzen«.

In Deutschland kommt hinzu, dass Neoliberalismus oft als eine mit den angelsächsischen Ländern verbundene Denkschule und Wirtschaftspolitik wahrgenommen wird, die der deutschen Volkswirtschaft – der korporatistischen »Deutschland AG« mit sogenannter Sozialpartnerschaft und Sozialstaat – eigentlich fremd sei. Selbst Teile der deutschen Linken übernahmen diese Vorstellung und trugen so dazu bei, ein verklärtes Bild eines im Sinne des Gemeinwohls regulierten Kapitalismus zu verbreiten, der erst durch den entfesselten Neoliberalismus unserer Zeit zerstört worden sei.

Prominenteste Vertreterin dieser Ansicht ist Sahra Wagenknecht, eine Politikerin der Linkspartei, die sich in ihrem 2012 veröffentlichten Buch »Freiheit statt Kapitalismus« positiv auf den wirtschaftspolitischen Kompromiss der Nachkriegszeit bezieht – dieser sei »ausdrücklich als Gegenentwurf zum Modell eines ungezügelten Kapitalismus« erdacht worden. Inzwischen jedoch seien »alle positiven Ideen der Marktwirtschaft tot«, da sich in Europa der »Thatcherismus« und der ungezügelte Kapitalismus durchgesetzt hätten. Das Geld, das für produktive Investitionen gebraucht würde, werde jetzt »im weltweiten Casino verzockt«. Ähnlich argumentierte der Soziologe Wolfgang Streeck, einer der Unterstützer von Sahra Wagenknechts sogenannter Sammlungsbewegung »Aufstehen«. Neoliberalismus heiße, dass »das Kapital sich aus der nationalen Knechtschaft herauslöst, in der es die Jahrzehnte nach 1945 verbringen musste«, schrieb er 2017 in der Zeitschrift New Left Review.

Versteht man den Neoliberalismus als Siegeszug des angelsächsischen laissez faire-Finanzkapitalismus, der die wirtschaftspolitische Souveränität der Nationalstaaten aushebelte, erscheint die Rückkehr zum »eingebetteten ­Kapitalismus« und der sozialen Marktwirtschaft der Nachkriegszeit in der Tat als attraktive Alternative. Doch das hieße zu übersehen, welche Rolle insbesondere der deutsche Staat bei der Durchsetzung neoliberaler Umstruk­turierungen in Europa und in der Welt gespielt hat, und zwar weil er sein heimisches Wirtschaftsmodell – das sich vor allem auf die Exportindustrie stützt und auf den Klassenkompromiss, den deren Überschüsse möglich machten – schützen wollte.

Diese These vertritt der Politikwissenschaftler Julian Germann in seinem kürzlich veröffentlichten Buch »The Unwitting Architect: German Primacy and the Origins of Neoliberalism«. Darin analysiert er die sogenannte soziale Marktwirtschaft der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit als ein »nach außen orientiertes Entwicklungsmodell«, das »Kapital und Arbeit für eine globale Exportoffensive rekrutierte«. Der Erfolg der Industrie ermöglichte den Klassenkompromiss. Um dieses Modell zu schützen, verfocht die deutsche Regierung immer wieder neoliberale Reformen, zunächst im Ausland.

Bereits der »Nixon-Schock« 1971, als die US-Regierung unter Präsident ­Richard Nixon die Goldbindung des US-Dollars aufhob und damit zum Ende des internationalen Systems der regulierten Wechselkurse beitrug, ging zu Teilen auf westdeutsche Politik zurück. Der US-Dollar war die Leitwährung der kapitalistischen Welt, doch weil weltweit immer mehr Dollars zirkulierten, deckten die Goldreserven der USA die Geldmenge nicht mehr. Gleichzeitig stiegen die Staatsausgaben kontinuierlich, denn die US-Regierung wollte die Expansion des Sozialstaats und den Vietnam-Krieg finanzieren und für Voll­beschäftigung sorgen.

Im Mai 1971 hatte die westdeutsche Regierung bekanntgegeben, die Bindung der Deutschen Mark an den US-Dollar aufzugeben. Diese Entscheidung werde »einen gesunden Druck auf unsere Partner ausüben, sich auf eine gemeinsame Stabilitätspolitik zu einigen«, sagte ein Vertreter des westdeutschen Außenministeriums damals. Die Bundesrepublik wollte sich vor den Auswirkungen der expansiven US-­Finanzpolitik schützen und Preisstabilität sichern. Im August 1971 verkündete Nixon überraschend das Ende der Konvertibilität des US-Dollars in Gold.

Einige Jahre später propagierte die US-Regierung unter Jimmy Carter ein neues international koordiniertes Programm steigender Staatsausgaben. Doch Bundeskanzler Helmut Schmidt schlug ein bescheidenes Wachstumsziel von nur einem Prozent vor, das statt durch Staatsausgaben durch Steuer­kürzungen erreicht werden sollte. Diese antiinflationäre Politik sollte die Stabilität der Mark und die Exporte der deutschen Wirtschaft schützen. Das drängte auch die USA auf einen deflationären Kurs: Statt Vollbeschäftigung wurde Preisstabilität zum entscheidenden Ziel. Der Vorsitzende der US-Zentralbank, Paul Volcker, erhöhte die US-Leitzinsen stark, was 1979 eine scharfe Rezession auslöste, den sogenannten Volcker-Schock.

Auch in Europa wendete sich die deutsche Politik gegen keynesianische Krisenlösungen. 1975 versuchte die italienische Regierung, ihre Wirtschaftskrise durch mehr Staatsausgaben zu überwinden, doch Abhängigkeit von ausländischen Krediten stand dem im Weg. Deutschland, die USA, Großbritannien und Frankreich drängten Italien zur Annahme eines Kredits des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Kürzungen im Staatshaushalt und einen Ausschluss der Kommunistischen Partei Italiens von jeder Regierungskoalition verlangte. Im selben Jahr gefährdete eine hohe Inflation das keynesianisches Programm der britischen Labour-Regierung. Wieder verweigerte auch Deutschland eine Stützung der britischen Währung, so dass die britische ­Regierung 1976 zur Annahme eines IWF-Kredits und zu Kürzungen der Staatsausgaben gezwungen war.

Lange vor der Eurokrise unterstützte Deutschland so Austerität als Strategie der Krisenbewältigung im europäischen Ausland. Bereits damals, so Germanns These, begriffen die deutschen Politiker jede protektionistische, staatsinterventionistische und inflationsträchtige Krisenlösung als Gefahr für die offenen Märkte und die stabilen Preise, auf denen der Erfolg des deutschen Exportmodells beruhte.

Erst verspätet erreichte dieser Anpassungsdruck auch Deutschland. Mit der gemeinsamen Währung im Euro-Raum war Deutschland um die Jahrtausendwende neuem Konkurrenzdruck ausgesetzt. Um die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie durch weitere Staatsausgaben zu belasten, wurde der Arbeitsmarkt tiefgreifend flexibilisiert.

Streeck verteidigte damals die Schaffung eines Niedriglohnsektors als notwendig zur »Runderneuerung des ›deutschen Modells‹«. »Im industriellen Kernbereich gehört Deutschland noch immer zu den wettbewerbsfähigsten Ländern«, schrieb er 1999 im Spiegel. »So gut sie sich aber auf den Weltmärkten behauptet«, so wenig könne die deutsche Industrie noch »die wachsende Zahl derjenigen aufnehmen (…), die heute Beschäftigung suchen«. Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sei eine Expansion des Dienstleistungssektors nötig, was nur möglich sei mit einem »Überdenken von Gerechtigkeitsvorstellungen, die aus der Indus­triegesellschaft und der Vollbeschäftigungswirtschaft der Nachkriegszeit stammen«.

Mit der Wirtschaftskrise von 2008, die sich in einer Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone niederschlug, konnte Deutschland wieder die vertraute Rolle einnehmen, neoliberale Reformen in der Peripherie durchzusetzen, während der eigenen Bevölkerung signalisiert wurde, dass dadurch die Stabilität des heimischen Wirtschaftsmodells geschützt werde. Die EU-Austeritätspolitik, so Germann, schützte nicht nur deutsche Banken, die zuvor in der Peripherie profitabel Kredite vergeben hatten, vor Verlusten, sondern fügte sich auch in den langfristigen Versuch ein, die Peripherie Europas in die »globalen Ketten zu integrieren, die von deutschen Exporteuren dominiert werden«. Die in der Krise erzwungene Abwertung der Peripherie habe geholfen, »die Kosten für deutsche Industriebetriebe, die dort produzieren oder Teile von dort beziehen, zu senken, und die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exporteure in den globalen Märkten zu verbessern«.

Übersetzung aus dem Englischen: Paul Simon