Die Rätebewegung der russischen Revolution war nicht antidemokratisch

Ein Aufstand für die Räte

War das Rätesystem für die Bolschewiki nur ein Vorwand für die Errichtung der Diktatur? Hatte der Kronstädter Matrosenaufstand 1921 keinen utopischen Gehalt? Es gibt gute Gründe, diesen Thesen entgegenzutreten.

In seinem Beitrag »Vorgeschichte einer Niederlage« wendet sich Hannes Giessler Furlan anlässlich des 100. Jahrestags des Kronstädter Matrosenaufstands gegen die Überhöhung der Rätedemokratie – diese birgt ihm zufolge keinen utopischen Gehalt. Vielmehr haben die Räte den Bolschewiki nur einen Vorwand für die Errichtung ihrer Parteidiktatur geliefert. Der Weg zur grundlegenden Demokratisierung Russlands nach westlichem Vorbild hätte über die Konstituierende Versammlung führen müssen. Diese jedoch lösten die Bolschewiki Anfang 1918 auf.

Nach ihrer Legalisierung im Zuge der Februarrevolution entwickelte sich die bolschewistische Partei schnell zu einer demokratisch organisierten Massenpartei.

Diese Darstellung folgt in weiten Teilen der unter westlichen Historikern lange Zeit vorherrschenden Auffassung, dass es sich bei der Oktoberrevolution um den Militärputsch einer kleinen radikalen Minderheit gehandelt habe. Eine in jüngeren Studien erfolgte ­Betrachtung der Ereignisse von 1917 spricht jedoch gegen eine solche Deutung. Auch wenn die Rätebewegung in Russland scheiterte, sollte sie für radikale Linke auch heute noch einen wesentlichen Bezugspunkt bilden – war sie doch einer der großen Versuche in der Geschichte der Arbeiterbewegung die Gesellschaft grundlegend zu demokratisieren.

Der klassischen Sichtweise zufolge widerspricht die Realität der Räte im Jahr 1917 dem Bild derselben als lebendiger Alternative zur parlamentarischen Demokratie. Die Räte seien bereits vor der Oktoberrevolution die Machtbasis der Bolschewiki gewesen und von den Vertretern der Partei ­instrumentalisiert worden. Hier wird gemäß rätekommunistischer und syndikalistischer Perspektive eine strikte Trennung zwischen Parteikadern auf der einen und der Arbeiterklasse auf der anderen Seite suggeriert.

Doch so klar lässt sich diese Trennung für Russland im Jahr 1917 nicht ziehen. Nach ihrer Legalisierung im Zuge der Februarrevolution entwickelte sich die bolschewistische Partei schnell zu einer demokratisch organisierten Massenpartei, getragen vor allem von qualifizierten Arbeitern in den großen Petrograder Industrieunternehmen. Zwischen Februar und Oktober gelang es der Partei, ihre Mitgliederzahl von 24 00 auf über 200 00 zu steigern und eine Mehrheit im Petrograder Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten zu erlangen. Die Partei wurde nicht von Lenin gelenkt, sondern zeichnete sich durch ausgeprägte innerparteiliche Demokratie und die Nähe zu den Arbeiterorganisationen aus.

Der Einfluss der Bolschewiki auf die breite Bevölkerung zeigte sich auch in den Fabrikkomitees, die nach der ­Februarrevolution in allen größeren Industrieunternehmen entstanden. ­Ihnen gelang es 1917, die Arbeiterkontrolle über die Fabriken sukzessive auszubauen. Die Komitees waren unter anderem involviert in Entscheidungen über die Löhne, die Länge des Arbeitstags sowie Einstellungen und Entlassungen. Im Laufe des Jahres griffen sie immer mehr in den Aufgabenbereich des Managements ein und organisierten mancherorts die Produk­tion in ­Eigenregie. Dieser Prozess kann als Demokratisierung des Fabriklebens ­beschrieben werden, da die Arbeiterinnen und Arbeiter der Betriebsleitung ­zunehmend die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel streitig machten.

Eine Demokratisierung in diesem Sinne beinhaltet umfassende Rechte auf der Ebene der Produktion. Dadurch geht sie wesentlich über die bloß formale Demokratie im bürgerlich-liberalen Sinne hinaus, die gerade den Bereich der Produktion unangetastet lässt. Jedoch waren sich die meisten Aktiven in den Fabrikkomitees auch darüber im Klaren, dass eine allgemeine Demokratisierung der Produktion, die Arbeiterselbstverwaltung, die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise erfordere – weshalb viele von ihnen für eine zentrale Lenkung der Wirtschaft plädierten.

Neben diesen Fabrikkomitees gründeten sich in ganz Russland nach der Februarrevolution politische Räte, deren höchstes Organ der Petrograder Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten war. Dieser besaß eine demokratische Legitimation, da sein Exekutivkomitee von Delegierten aus der Armee und den Fabriken gewählt wurde. Hatten zunächst die moderaten sozialistischen Parteien die Mehrheit im Exekutivkomitee, so verloren sie aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit der liberalen Partei, den Kadetten, später ihre Massenbasis. Den Bolschewiki gelang es, den wachsenden Unmut der Massen infolge von Krieg und Hunger zu kanalisieren und ihm in Forderungen wie »Friede, Land und Brot!« und »Alle Macht den Räten!« Ausdruck zu verleihen. Dies war die Voraussetzung für den Sturz der provisorischen Regierung, der sich im Oktober vollziehen sollte.

Nach der Februarrevolution sollte die provisorische Regierung die Staatsgeschäfte leiten, bis eine Konstituierende Versammlung die endgültige Regierungsform festlegen würde. Mit der Etablierung der Räte als Gegenmacht zur provisorischen Regierung und der Propagierung derselben als Alternative zur parlamentarischen Demokratie stellte sich für die sozialistischen Parteien jedoch die Frage, ob man eine Kons­tituierende Versammlung noch brauche. Auch innerhalb der bolschewistischen Partei gab es verschiedene Auffassungen. Die Moderaten um den einflussreichen Lew Kamenew setzten sich für die Einberufung der Konstituierenden Versammlung ein. Lenin und die linke Fraktion der Bolschewiki dagegen propagierten die vollständige Übertragung der Macht an die Räte.

Ein häufig formulierter Kritikpunkt an der Politik der Bolschewiki betrifft die von ihnen durchgesetzte Auflösung der Konstituierenden Versammlung am 5. Januar 1918. Diese sei, so die ältere Geschichtsschreibung, aus einem einfachen Grund erfolgt: Nach den Sozialrevolutionären waren die Bolschewiki mit ungefähr zehn Millionen Stimmen lediglich als zweitstärkste Fraktion aus den Wahlen hervorgegangen.

Doch nach Ansicht der Bolschewiki spiegelte das Wahlergebnisse nicht die tatsächliche Stimmungslage in der ­Bevölkerung wieder. Denn die Bauern hätten zum Zeitpunkt der Stimmabgabe nicht gewusst, dass die rechten Sozialrevolutionäre mittlerweile von ihrer Forderung nach einer grundlegenden Agrarreform abgerückt waren. Zudem ging man davon aus, dass die linken Sozialrevolutionäre, die den Oktoberumsturz unterstützten, in den Wahllisten unterrepräsentiert waren. Wäre den Bauern bewusst gewesen, dass mittlerweile die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre für ihre Interessen einstanden, so hätten diese voraussichtlich eine Mehrheit erzielt.

Gerechtfertigt wäre die Auflösung der Konstituierenden Versammlung jedoch nur gewesen, wenn die Rätedemokratie nach der Revolution weiter ausgebaut worden wäre. Stattdessen begannen die Bolschewiki, sie einzuschränken. Durch den wachsenden Einfluss der Parteiorgane wurden die Räteorganisationen ausgehöhlt, die Repression gegen die bei der Bauernschaft populären linken Sozialrevolutionäre um Maria Spiridonowa führte zu einer Entfremdung von Stadt und Land und die Einschränkung der Versammlungs- und Pressefreiheit ließ das politische Leben erlahmen. Die Bedrohung durch die Konterrevolution, die Lebensmittelknappheit sowie die ökonomische Krise wegen des Zusammenbruchs der Kriegsproduktion führten dazu, dass die Bolschewiki zu autoritären Maßnahmen griffen und auch vor der Anwendung politischen Terrors nicht zurückschreckten.

Vor diesem Hintergrund war der Kronstädter Matrosenaufstand, der am Ende einer siebenjährigen Kriegsperiode ausbrach, der Versuch, an die Errungenschaften des Jahres 1917 anzuknüpfen. Denn in der Erinnerung der Kronstädter Matrosen waren die glorreichen Tage der Petrograder Arbeiterklasse noch lebendig. Der Aufstand wurde jedoch von den Bolschewiki mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. In ihrer Resolution hatten die Matrosen freie Wahlen, Rede- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit sowie die Freilassung politischer Gefangener gefordert. Markt- und Gewerbefreiheit dagegen finden sich in den Forderungen nicht. Hierbei handelt es sich um eine Unterstellung Lenins, der den Aufstand als konterrevolutionären Umsturz zu diskreditieren suchte. Die Aufständischen wandten sich gegen den bürgerlichen Parlamentarismus und die bolschewistische Diktatur gleichermaßen, sie wollten eine Restitution der Rätedemokratie.

Hier lohnt sich ein Blick in die Arbeiten von Sozialhistorikern, die sich in den siebziger und achtziger Jahren aus dem totalitarismustheoretischen Deutungsrahmen des Kalten Krieges lösten und auf Grundlage ausgiebiger Quellenarbeit neue Erkenntnisse zutage gefördert haben. Diese Studien, unter anderem S. . miths »Red Petrograd«, David Mandels »The Petrograd Workers in the Russian Revolution« und Alex­ander Rabinowitchs »The Bolsheviks Come to Power«, zeigen auf, wie stark die Petrograder Arbeiter und Arbeiterinnen in die politischen Prozesse des Jahres 1917 eingebunden waren, dass der Erfolg der Bolschewiki auf einer breiten Massenbasis beruhte und die Arbeiter und Arbeiterinnen Einfluss auf die Partei nehmen konnten. Dies stellt das Bild der Oktoberrevolution als Werk einer streng hierarchisch organisierten Verschwörerorganisation in Frage. Eine an diesen Erkenntnissen orientierte Auseinandersetzung mit den Ereignissen des Jahres 1917 könnte sowohl Hinweise für die demokratische Organisation einer Übergangsgesellschaft liefern als auch der Debatte über das Scheitern der Oktoberrevolution neue Impulse bringen.