Samuel Salzborn, Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, im Gespräch über antiisraelischen Anti­semi­tis­mus in Deutschland

»Die deutsche Gesellschaft hat ein Antisemitismusproblem«

Interview Von Philipp Idel

In den vergangenen Wochen haben Tausende in deutschen Städten gegen Israel demonstriert. Die meisten Demonstrierenden haben die Eskalation im Konflikt zwischen dem jüdischen Staat und den Palästinensern als Vorwand genutzt, um sich antisemitisch zu äußern.

Wie hat sich antiisraelischer Anti­semitismus in Deutschland seit der jüngsten Eskalation des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern geäußert?
Was wir erlebt haben, ist ein offener, aggressiver, nicht nur gewaltbereiter, sondern gewalttätiger Antisemitismus, der sich direkt gegen Jüdinnen und ­Juden richtet. Es werden Drohungen gegen Synagogen und jüdische Gemeinden geäußert, bei Demonstrationen kam es zu Angriffen.

Es wurde auch »Beschießt Tel Aviv« gerufen, Israel wurde Apartheid vorgeworfen. Erhält antiisraelischer Antisemitismus hierzulande genügend Aufmerksamkeit?
Das Thema ist mittlerweile durchaus auf der politischen Agenda angekommen. Wir, die Antisemitismusbeauftragten des Bundes und der Länder, haben erst Ende vorigen Monats eine Erklärung veröffentlicht, in der wir auf das Pro­blem des antiisraelischen Antisemitismus hinweisen und fordern, sich diesem entschieden entgegenzustellen. In den vergangenen Tagen haben viele politisch Verantwortliche klar gegen antiisraelischen Antisemitismus Stellung bezogen.

»Faktisch ist es seit Jahrzehnten so, dass nahezu alle, die sich antizionistisch äußern, auch Antisemiten sind.«

Reicht das aus, um antiisraelischen Antisemitismus gesellschaftlich weniger akzeptabel zu machen?
Die Frage ist, was in dieser Hinsicht passiert, wenn die antisemitischen Demonstrationen wieder abflauen. Ich habe die Sorge, dass das Thema dann zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Wir kennen die stehende Formulierung, man müsse Israel doch kritisieren dürfen. Dabei darf Israel natürlich kritisiert werden und wird in der deutschen Öffentlichkeit auch umfassend kritisiert. Die meisten, die die erwähnte Floskel vorausschicken, machen das, um sich danach antisemitisch zu äußern. Anti­israelischer Antisemitismus wird noch immer verharmlost und bagatellisiert – so als gebe es einen schlimmen und einen weniger schlimmen Antisemitismus.

In der »Tagesschau« war von ­»Demonstrationen gegen die Eskalation im Nahen Osten« die Rede.
Ich habe nicht den Eindruck, dass es bei den Demonstrationen um den Nahostkonflikt ging. Die meisten Demons­trierenden haben den Konflikt lediglich als Vorwand genutzt. Es sind eindeutig gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Sprechchöre zu hören gewesen, also nichts, was irgendjemand noch als chiffriert deuten könnte. Wer hier keinen Antisemitismus erkennt, will ihn nicht erkennen.

Viele Teilnehmende solcher Demonstrationen würden wohl behaupten, sie seien keine Antise­miten, da sie nicht gegen Jüdinnen und Juden, sondern gegen Israel und den Zionismus seien.
Wenn man versucht, Antizionismus fein säuberlich von Antisemitismus zu trennen, benutzt man ein rhetorisches Ticket, das seit Jahrzehnten keine Gültigkeit mehr hat. Es gab natürlich in der Vergangenheit innerjüdische Debatten, in denen der Zionismus in Frage gestellt wurde, hier und dort ist das auch immer noch der Fall. Faktisch ist es aber seit Jahrzehnten so, dass nahezu alle, die sich antizionistisch äußern, auch Antisemiten sind.

Im Aufruf zu einer Demonstration in Berlin hieß es, das »historische Palästina« müsse »dekolonisiert« werden. Weshalb beschreiben ei­nige propalästinensische Gruppen Israel mit dem Vokabular postko­lonialer Theorie?

Ich habe dafür zwei Erklärungsansätze. Der eine ist, dass dem ein eklatantes Ausmaß an historischer Unbildung zugrunde liegt, der andere, dass es da­rum geht, möglichst große antisemitische Bündnisse zu bilden. Das Grundproblem ist, dass eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Geschich­­te postkolonialer Theorie leider zu wenig stattfindet.

Inwiefern?

Es gibt im postkolonialen Milieu einen Mangel an Auseinandersetzung mit der Ideologie des Antiimperialismus, die übrigens mit marxistischen Grundannahmen gebrochen hat. Eine dieser Annahmen ist, dass alle bisherigen Gesellschaften eine interne Differenzierung in herrschende und beherrschte Klassen aufgewiesen haben. Antiimperialistische Theoretiker haben vor allem in den sechziger Jahren die Behauptung aufgestellt, dass bestimmte Nationen und Völker unterdrückt seien und andere nicht, die inneren Widersprüche von Gesellschaften wurden ausgeblendet. Das läuft auf eine Ethnisierung der Politik hinaus und führt dazu, dass man sich ethnische Kollektive sucht, die im eigenen Sinne handeln sollen, etwa die Palästinenser.

Auf den Demonstrationen waren viele dem Anschein nach muslimische Jugendliche zu sehen. Weshalb ist Antisemitismus unter diesen ­Jugendlichen verbreitet?
Die Antwort darauf ist weitaus komplexer, als bisweilen nahegelegt wird. Muslimische Jugendliche und natürlich auch Erwachsene sind keine homogene Gruppe. Mittlerweile gibt es einige Untersuchungen, die das Phänomen beleuchtet haben, zum Beispiel von dem an der Indiana University lehrenden Antisemitismusforscher Günther Jikeli. Er hat gezeigt, dass ein ausgeprägter Verschwörungsglaube, eine dezidiert antijüdische Islamauslegung, ein aggressiver Antiimperialismus und die weitverbreitete panarabische Ideologie, mit der eine starke Überidentifizierung mit den Palästinenserinnen und Palästinensern einhergeht, zu dem Phänomen beitragen.

Gibt es weitere Erklärungsansätze?
Man muss berücksichtigen, unter welchem Einfluss die Menschen stehen. In der Bundesrepublik gibt es ein Dauerrauschen von Verschwörungsmythen aus anderen gesellschaftlichen und politischen Milieus, das sollte nicht ausgeblendet werden. In vielen arabischen Ländern verbreiten Regierungen und Medien Antisemitismus. Dieser findet sich dort häufig auch in Schulbüchern – auch in solchen für Fächer, bei denen man nicht erwarten würde, dass man Lerninhalte antisemitisch aufladen kann.

Wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit deutschen Schulbüchern?
Ich halte es für wahrscheinlich, dass deutsche Schulbücher nicht dazu beitragen, antiisraelische Einstellungen unter muslimischen Jugendlichen in Frage zu stellen.

Weshalb?
Das Thema Nationalsozialismus und Shoah wird in den Schulbüchern größtenteils angemessen dargestellt. Das Problem ist allerdings, dass Antisemitismus vielen deutschen Schulbüchern zufolge vor 1933 und nach 1945 nicht existiert zu haben scheint. Zudem kommen Jüdinnen und Juden als selbstverständlicher Bestandteil deutscher und europäischer Geschichte und Kultur so gut wie nicht vor, sondern nahezu ausschließlich in Bezug auf den Nationalsozialismus oder den Nahostkonflikt. Wenn Israel thematisiert wird, dann im Zusammenhang mit diesem Konflikt. Wir erfahren nichts über die sehr plurale israelische Gesellschaft oder den aus europäischer Perspektive höchst interessanten israelischen Verfassungsgebungsprozess, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Der Nahostkonflikt wird extrem einseitig, emotionalisierend und propalästinensisch dargestellt.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat in einem Fernsehinterview gesagt, Jugendlichen mit Migrationshintergrund müsse klar gemacht werden, dass Antisemitismus in Deutschland nicht akzeptabel ist. Sehen Sie das genauso?
Die deutsche Gesellschaft hat ein Antisemitismusproblem, das in unterschiedlicher Form und Radikalität sämt­liche Teile der Gesellschaft betrifft – das muss politisch allen klar gemacht werden, also selbstverständlich und natürlich auch Jugendlichen mit Migrationsgeschichte.

In der erwähnten Erklärung, die Sie zusammen mit den anderen Antisemitismusbeauftragten von Bund und Ländern veröffentlicht haben, schreiben Sie, die antiisraelische BDS-Kampagne erhalte zu wenig Gegenrede im öffentlichen Raum. Wie erklären Sie sich das?
Eine größere Öffentlichkeit setzt sich, wie gesagt, mit antiisraelischem Antisemitismus nur auseinander, wenn es ­einen konkreten Anlass gibt. Zudem gibt es immer noch viele, die offensichtlich ein großes Bedürfnis haben, ihre politischen Inhalte antisemitisch gegen Israel zu formulieren, aber nicht Antisemiten genannt werden möchten, was im Übrigen, solange es sich um sachliche Kritik an Israel handelt, auch eigentlich niemand tut. Das führt dazu, dass die in Deutschland relativ kleine, aber sehr aggressive BDS-Kampagne im akademischen und im kulturellen Bereich lautstark auftreten kann.

Wie erklären Sie sich das?
In den vergangenen Monaten haben Kulturschaffende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder die Ansicht geäußert, man könne Israel in Deutschland nicht kritisieren. Dieses Milieu ist jetzt, da deutlich wird, dass diejenigen, für die sie sich in die Bresche geworfen haben, sich tatsächlich antisemitisch äußern, sehr ­leise. Ich finde es bedauerlich, dass man in diesem Milieu jetzt nicht zugibt, sich geirrt zu haben.